Heft 8/2004
Dezember
2004

Vom Reinheitswahn zum Vernichtungswunsch

Christentum, Narzissmus und Antisemitismus

Erster Teil einer psychoanalytisch orientierten Kritik des religiösen Antisemitismus.

Im gebannten Starren auf den Islamismus droht vielerorts das Christentum aus dem kritischen Blick zu geraten. Dabei legt schon die Kreuzzugsmetaphorik der Bush-Admi­nistration nahe, dass die ideologische Auf­rüstung des Westens gegen den „islamischen Fundamentalismus“ sich zusammenfindet mit militanter Re-Christianisierung. Diese ist entgegen antiamerikanischer Legendenbil­dung aber bei weitem nicht auf die USA be­schränkt. Auch in Europa soll es der „Beliebigkeitsgesellschaft“ (Kardinal Schönbom) an den Kragen gehen, sollen die Menschen mit dem Christentum wieder wehrhaft ge­macht werden gegen das Böse und seine Ver­suchungen. Unter dem Eindruck der isla­mistisch motivierten Ermordung des hollän­dischen Filmemachers Theo Van Gogh wird nicht nur in neorassistischen Diskursen die deutsche oder europäische, auf jeden Fall christlich-säkularisierte „Leitkultur“ gegen die vermeintlich multikulturelle Gesellschaft in Anschlag gebracht. AdressatInnen der ent­brannten „Wertedebatte“ sind aber nicht nur die „Anderen“: Die Konfrontation mit dem Islamismus, mit dem „starken Glauben in diesen Kulturen“, dient dem deutschen Philosophen Rüdiger Safranski auch der Bewusstmachung „unserer Dekadenz“. Wir „hohlen Konsumenten und dekadenten Ni­hilisten“ könnten den Kampf gegen den Is­lamismus nur gewinnen, wenn wir uns ihm ähnlich machen. [1] Als eine aufs Jenseits aus­gerichtete, grandiose Verzichtsideologie ist das Christentum (wie andernorts der Islam) gefragt in einer Zeit, wo angeblich alle „Op­fer“ bringen müssen.

Die Proselytenmacherei islamischer und christlicher Provenienz hat bei aller Diffe­renz einiges gemeinsam: den Hass auf nicht­perverses Genießen, die Frontstellung ge­gen Aufklärung, Moderne und Liberalität — sowie die antisemitische Disposition. Während der Antisemitismus in islamistischen Hetz­predigten offen artikuliert wird, ist er im institutionalisierten Christentum von wohltö­nenden Schuldbekenntnissen, pflichtschuldigen Dialogwünschen und philosemitischer Schwärmerei überlagert. Demgegenüber ist es Fundamentalisten vom Schlage eines Mel Gibson zu danken, dass sie uns das Wesen der christlichen Religion in Erinnerung ru­fen.

Oblate wird zu Fleisch
(Faksimile: Loreto Bote)

Wort und Schwert

Ein Datum mit Symbolwert: Am 3. Ok­tober 2004 wurde in Rom nicht nur Kaiser Karl I., sondern auch die Mystikerin Anna Katharina Emmerick (1774-1824) selig gesprochen. Deren Visionen brachte Clemens von Brentano als Das bittere Leiden unseres Herrn Jesu Christi zu Papier. Brentano, ne­ben Fichte, Kleist und anderen Begründern des deutschen Nationalismus 1811 Mitglied der antisemitischen Christlich-Deutschen Tisch­gesellschaft, [2] legte damit einen Bestseller vor: Das Buch gilt als eines der meistverkauften Werke des 19. Jahrhunderts. Als Vorlage für Mel Gibsons sadistische Blutoper „The Pas­sion of The Christ“ kam es im Zuge des breit angelegten antiaufklärerischen Projektes ei­ner Re-Evangelisierung des Westens nun zu neuer Berühmtheit. Dass im Zentrum dieses Projektes die wiederaufgewärmte Legende vom jüdischen Gottesmord steht, liegt in der Natur des Unterfangens: Ein Christentum, das sich auf sein Wesenhaftes oder Fundament be­sinnt, kommt nicht aus ohne Antisemitismus. Im Zusammenspiel mit der distanzierten Hal­tung der Amtskirchen gegenüber diesem Pro­jekt setzt sich die Jahrhunderte lange Doppelgleisigkeit von theologischem Wissen und volks­religiöser Unwissenheit fort. Schon die mittel­alterlichen Ritualmordlegenden und die oft in Pogrome mündenden Passionsspiele, der Wun­derglaube und die Idolatrie wurden vom höhe­ren Klerus (bei aller selbst betriebenen antise­mitischen Hetzte) zwar verurteilt, gleichzeitig als notwendiges Übel zur ideologischen Herr­schaft über das in Unwissenheit gehaltene Volk in Kauf genommen. Die schlecht getauften Christen, von denen Freud im Mann Moses spricht, lassen sich nämlich bis heute vor al­lem mit viel Blut, ausufemdem Heiligen- und Märtyrerkitsch und der Angst vor einem äuße­ren, absoluten Bösen mobilisieren.

„Hostienwunder“: Jesu Wundmale auf Oblaten
(Faksimilie: Loreto Bote)

Einwand

Bevor ich mich zunächst diesem Wesen der christlichen Religion, das sich jedoch nicht un­mittelbar im (eben auch von vielen anderen Determinanten abhängigen) Denken und Han­deln ihrer AnhängerInnen und der von ihr kulturell Beeinflussten ausdrückt, [3] zu nähern versuche, will ich die Vorbehalte gegen die­sen Ansatz aber nicht unterschlagen.

Detlev Claussen etwa kritisiert eine psy­choanalytisch orientierte Kritik des Antisemitismus, die vor allem die religiöse Differenz zum Gegenstand hat: „Aus Mitgliedern der bürgerlichen Gesellschaft werden Angehöri­ge von Gruppen, die wiederum nach bloßer Herkunft definiert werden: Christen und Ju­den. Auf diese Weise dringt bei der Untersu­chung des Antisemitismus ein Manichäismus in den Gegenstand ein, der selbst erst ein Re­sultat antisemitischer Weltanschauung ist.“ [4] Dieser Kritik zugrunde liegt eine Überbeto­nung der Differenz zwischen religiösem An­tijudaismus und modernem Antisemitismus. Dadurch wird es verunmöglicht, die Ge­meinsamkeiten von bürgerlicher Gesellschaft und religiöser Gemeinschaft zu sehen. [5]

Demgegenüber kann etwa der Gottes­mordvorwurf an die Juden und Jüdinnen als „sich in verschiedenen und jeweils zeitgemäßen Transformationen“ fortschreibender „Grün­dungsmythos einer ganzen Zivilisation“ [6] be­trachtet werden. Und Horkheimer und Ador­no betonen in den „Elementen des Antisemi­tismus“ auch dessen religiöse Tradition, wel­che entgegen der Selbstdarstellung von mo­dernen (v.a. rassistisch argumentierenden) An­tisemiten nach wie vor wirksam sei. Denn die „Religion ward als Kulturgut eingegliedert, nicht aufgehoben.“ [7] Der faschistische Glau­be sei der selbe wie der religiöse, „nur sein In­halt ist abhanden gekommen. Von diesem lebt einzig noch der Haß gegen die, welche den Glauben nicht teilen.“ [8] Auch wenn die Reli­gion heute nicht mehr in diesem Ausmaß das Denken und Verhalten von Menschen be­stimmt, so ist die Beschäftigung mit dieser Form der Massenbildung also nach wie vor sinnvoll. Denn in der Religion sind die bis heu­te gültigen Muster der Ein- und Ausgrenzung angelegt. So stellt das Christentum bei aller Aufklärung das Fundament des kulturellen Paradigmas zur Konstruktion des „Anderen“ im „Abendland“ dar: „Tatsächlich scheint die Neutralisierung der Religion gerade zum Ge­genteil dessen geführt zu haben, was der Auf­klärer Freud erwartete: die Trennung in Gläu­bige und Ungläubige ist aufrechterhalten und verdinglicht worden, aber sie wurde dabei zu einer unabhängig von allem Ideengehalt be­stehenden Struktur an sich, die nach dem Ver­lust ihrer inneren Überzeugungskraft nur um so hartnäckiger verteidigt wird.“ [9]

Regression und Projektion

Da die Freudschen Thesen zum christli­chen Antisemitismus, dem Ergebnis des schlech­ten Gewissens der kollektiv Regredierten ge­genüber den AnhängerInnen der vergeistigte­ren Vaterreligion, hier schon behandelt wur­den, [10] will ich mich im folgenden auf bisher in der Diskussion eher zu kurz gekommene Aspek­te beschränken. Das in allen Studien zum The­ma an zentraler Stelle behandelte Motiv der kulturellen Entwicklung hin zum Monotheis­mus kann jedoch nicht ausgespart werden: Die Juden und Jüdinnen führten bekanntlich den einzigen und noch dazu unbeschreibbaren Gott ein. Den drei narzisstischen Kränkungen der Menschheit kann eine vierte (die eigentlich die erste ist) beigefügt werden: „Der jüdische Monotheismus nahm ihm (dem Menschen, Anm.) die Illusion, Gott sein zu können.“ [11] An einen derart abstrakten Gott zu glauben, bedeutete zudem einen „Fortschritt in der Geistigkeit“ (Freud), welcher mit einem enormen Trieb­verzicht bezahlt werden muss(te). Und genau dieser Preis war für viele zu hoch. So erscheint das Christentum als Rächerin des gekränkten heidnischen Narzissmus, das Christusdogma als erneuertes Angebot zur Verschmelzung und Identifizierung mit der göttlichen Macht, die sich nun wieder in einem Menschen konkre­tisierte.

Die Entwicklung zum Monotheismus, zur Vorstellung eines einzigen, abstrakten Gottes, der als Vater-Imago liebende und strafende Anteile in sich vereint, lässt sich in Analogie zur Ontogenese auch begreifen als „Entwick­lung von der eingeschränkten Wahrnehmung von Partialobjekten hin zur Fähigkeit der Wahr­nehmung des ganzheitlichen Objekts“. [12] Nun besteht keine Notwendigkeit mehr, die ag­gressiv-destruktiven Anteile abzuspalten und nach außen zu projizieren (paranoid-schizoi­de Position). Vielmehr werden diese Anteile integriert, die widersprüchlichen Gefühle an einem inneren Objekt, das auch böse sein und gehasst werden kann, erfahren. Der Preis für diese Entdämonisierung der äußeren Welt ist der Ambivalenzkonflikt (depressive Position). Auf der Ebene der Gottesvorstellung bedeu­tet die christliche Etablierung einer vollkom­men guten und liebenden Imago, welche der narzisstischen Ur-Mutter entspricht, die Rück­kehr der Notwendigkeit zur Abspaltung und Projektion. Der Antisemitismus erscheint nun als überdeterminiert: Einerseits erweist er „sich als ein Hass auf jene, die am Ritual der Endlastung aus der paranoid-schizoiden Position nicht teilnehmen, denn sie werden als Bedro­hung wahrgenommen, die an dem Sinn dieser Endlastung Zweifel entstehen lassen.“ [13] An­dererseits ist er Projektion jener negativen oder analen Anteile, die nicht integriert werden kön­nen. Mit dem chrisdichen Gott betrat der jü­dische Teufel die Weltbühne, der Narzissmus der Reinheit ist nur zu haben mit der Projek­tion des Unreinen, der Analität. „Der Reini­gungsprozess ist seit zwei Jahrtausenden im­mer derselbe: sich vom Bösen befreien, indem man es auf den Judaismus projiziert.“ [14]

„Kreuzwunder“: Religiös betriebener Rasenmäher
(Faksimilie: Loreto Bote)

Jenseits im Diesseits

In den „Elementen des Antisemitismus“ betonen Horkheimer und Adorno zunächst den hohen Abstraktionsgrad der jüdischen Religion: „Gott als Geist tritt der Natur als das andere Prinzip entgegen, das nicht bloß für ihren blinden Kreislauf einsteht wie alle mythischen Götter, sondern aus ihm befrei­en kann. Aber in seiner Abstraktheit und Fer­ne hat sich zugleich der Schrecken des In­kommensurablen verstärkt“. [15] Das Chri­stentum habe nun „den Schrecken des Ab­soluten gemildert, indem die Kreatur in der Gottheit sich selbst wiederfindet“. [16] Neben der narzisstischen Vermenschlichung Gottes kam es zu einer Verdrängung des Gesetzes (des ödipalen Momentes) durch den Glau­ben und die Gnade. Das neue, jenseitige Heils­versprechen blieb jedoch unverbindlich, zu­dem wurde den Gläubigen die Möglichkeit genommen, durch ein Leben nach dem Ge­setz sich der Einlösung dieses Versprechens im Diesseits zu nähern. Und so mussten diejenigen, die das Wissen um diese Unver­bindlichkeit „verdrängten und mit schlechtem Gewissen das Christentum als sicheren Besitz sich einredeten, (...) sich ihr ewiges Heil am weltlichen Unheil derer bestätigen, die das trübe Opfer der Vernunft nicht brachten.“ [17] Das sei „der religiöse Ursprung des Antisemitismus. Die Anhänger der Vaterreligion werden von denen des Sohnes gehaßt als die, welche es besser wissen. Es ist die Feindschaft des sich als Heil verhärtenden Geistes gegen den Geist. Das Ärgernis für die christlichen Judenfeinde ist die Wahrheit, die dem Unheil standhält, ohne es zu rationalisieren, und die Idee der unverdienten Seligkeit gegen Welt­lauf und Heilsordnung festhält, die sie angeblich bewirken sollen. Der Antisemitismus soll bestätigen, daß das Ritual von Glaube und Geschichte recht hat, indem er es an je­nen vollstreckt, die solches Recht verneinen.“ [18]

Zudem fühlt sich die falsche Hoffnung auf das jenseitige Reich herausgefordert durch „das hartnäckige Beharren auf Erlösung und Befreiung in der Welt“: „Eine Religion, die stets auch das Diesseits meint, das Hier und Jetzt, das ist der Juden Sünde! Dafür müssen sie immer wieder bestraft werden, auch heu­te noch.“ [19]

Von Saul zu Paulus

Die Evangelien können begriffen werden als „veritables Psychodrama, in dem Christus unablässig den Juden als Vertreter des Ge­setzes und des väterlichen Prinzips angreift. Wenn ein Subjekt dank seiner narzisstischen Illusion zum Gott wird, so wird der Jude, der ein Hindernis vor der absoluten narzisstischen Erfüllung dieses Subjekts ist, zum Teufel.“ [20] Dennoch scheint eine historische Differen­zierung wichtig: Während Jesus und die Apo­stel sich noch als Juden fühlten und zu die­sen sprachen, wandte sich Paulus an die Hei­den. Dabei musste er entschiedener mit der Vaterreligion brechen. Aus der scharfen innerjüdischen Polemik der Evangelisten wur­de bei Paulus Antijudaismus oder religiöser Antisemitismus, wie er notwendig in der Fort­bewegung vom Judentum entstand. [21] Paulus brach nicht nur mit dem Gesetz (Tora), das er durch den Glauben ersetzte, sondern führ­te auch die gnostische Idee der in gut und bö­se zweigeteilten Welt und einer möglichen Vollkommenheit (Reinheit) des Menschen in die neue Religion ein. Im Rahmen seiner Hei­denmission zu allerlei Konzessionen an die Proselyten bereit, baute er verschiedene Ent­lehnungen aus anderen Kulten und Religio­nen (z.B. aus dem Mithraskult) in das Chri­stentum ein. Vor allem setzte sich mit Paulus dort endgültig der antike Mythos durch: vom sich opfernden Gott, dessen Fleisch und Blut im magischen Ritual (Eucharistie) symbolisch verzehrt wird.

Auch und gerade mit der Abschaffung des Opfers, dieser „anthropologische(n) Voraussetzung aller Kulturregressionen“, [22] und seiner Ersetzung durch das Gesetz, welchem beim Individuum das Über-Ich entspricht, hat das Judentum einen zentralen Beitrag zur Kulturentwicklung oder „Vergeistigung“ (Freud) geleistet. Damit wurde eine zentra­le Möglichkeit versperrt, aufgestaute de­struktive Triebregungen unmittelbar abzu­führen, was einer kollektiven Traumatisie­rung gleichkommt. Das Christentum fiel nun von dieser Stufe der Kulturentwicklung wie­der herunter, wobei der „Rückfall in die Op­fertheologie (...) gleichsam ‚umgedreht‘ (wird), indem den Juden eine archaische Opfermy­thologie als Gottesmörder unterschoben wird.“ [23]

Das Christentum beruht aber nicht nur auf einem (Selbst)Opfer Gottes, sondern es führte auch „symbolisch die Totemfeste der Urzeit wieder ein.“ [24] Bei der Kommunion kommt es zur symbolischen Einverleibung Christi, wobei die aggressive Verschlin­gungstendenz abgespalten und als Vorwurf des Gottesmordes auf die Juden und Jüdin­nen projiziert wird. Dieser Vorwurf und die (unbewusst) davon abgeleiteten Ritualmordbeschuldigung werden demnach stän­dig durch die magischen Praxen aktualisiert und sind von daher nicht einfach mit theologischen Distanzierungen aus der Welt zu schaffen. All den antisemitischen Anschul­digungen, die den Frevel am (symbolischen) Leib Christi zum Gegenstand haben, liegt ei­ne psychologische Wahrheit zugrunde: Der „Antisemit (beschuldigt) den Juden, das in Wirklichkeit zu tun, was er selbst symbolisch vollzieht.“ [25]

Daneben ist es die anhaltende Weigerung der Juden und Jüdinnen, Jesus als Messias oder gar den Sohn Gottes anzuerkennen, durch welche sie sich den Gottesmordvorwurf zuziehen. Ist die Existenz von Ungläu­bigen schon jedem religiös-expansionistischen Narzissmus eine Kränkung, so erneuert die jüdische Ungläubigkeit beständig die christ­lichen Selbstzweifel am göttlichen Charakter Jesu, was das Aggressionspotential der mit ihm sich Identifizierenden so erhöht. Mit der antisemitischen Figur vom Verrat des Judas soll(te) zudem das Wissen um den eigenen Verrat am Gesetz, am strengen Monotheis­mus samt seinem Bilderverbot abgewehrt wer­den.

Schließlich kommt dem Gottesmordvor­wurf auch ein strategisches Moment zu: Es war eine Frage des Überlebens des jungen Christentums, nicht die Römer für den Kreu­zestod Jesu verantwortlich zu machen. Und für dieses Arrangement mit der weltlichen Macht, welchem psychisch die Identifikation mit dem Aggressor entspricht, bezahlten die Juden und Jüdinnen. Am Beispiel der mittel­alterlichen Passionsspiele lässt sich dies prä­zisieren. Sie „fanden in einer Atmosphäre anarchisch-exzesshafter Festesfreude statt. Das grausame Spiel von der blutigen Opferung ei­nes Gottes war es, das mit Wein und Gebäck, mit Musik und Belustigung gefeiert wurde.“ [26] Der sadistische Lustgewinn an den bluttrie­fenden Passionsdarstellungen kollidierte mit dem kulturellen Zwang zum Mitleid mit dem Gemarterten. „Deshalb mussten die Aggressionen sekundär umgelenkt werden, um sie in theologisch akzeptabler Form abführen zu können: Die in der Identifikation mit den Rö­mern entstandenen sadistischen Triebregun­gen wurden von Jesus auf die Ersatzfigur Ju­das verschoben. Der Befestigung und Siche­rung dieser Verschiebung diente in geradezu idealer Weise die Aktualisierung durch die re­al existierenden Juden.“ [27] Von daher ist nur allzu verständlich, dass die Passionsspiele so oft in Pogrome mündeten.

„Jüdisches Ritualmordopfer“ Anderl von Rinn im Himmel
(Faksimile: Loreto Bote)

Narzissmus

Spätestens jetzt ist es an der Zeit, den Be­griff des Narzissmus zu präzisieren. Dieser meint hier weniger eine psychosexuelle Ent­wicklungsstufe als einen Zustand, der dem in­trauterinen Leben vergleichbar ist, also einen „Abkömmling der vorgeburtlichen Koenästhesie [28] Diesem Zustand, dem phylogenetisch der Animismus (das magische Denken, wel­ches auch den Antisemitismus kennzeichnet) gleichkommt, entspricht das Gefühl der All­macht und Vollkommenheit, der Identität mit dem Universum oder der Ur-Mutter. Insbe­sondere gegen die Herausforderungen der Triebökonomie und des Ödipus steht die Sehn­sucht nach der Rückkehr zu diesem Zustand der (R)Einheit. Vor der Geburt ist nach dem Tod: Diese Sehnsucht artikuliert sich als Wunsch, ins Paradies Eingang zu finden. Und so spricht auch aus dem islamistischen Schlachtruf „Ihr liebt das Leben, wir lieben den Tod!“ die in­nere Wahrheit des absoluten Narzissmus.

Als psychische Dimension ist der Narziss­mus der Gegenspieler der Triebe. Gelingt die Synthese von beiden nicht, wendet sich das Subjekt gegen den eigenen Körper als Repräsentanten der Triebe. Dieser Hass auf die Kör­perlichkeit (Realität) findet sich dann oft ein Ventil in Selbstverstümmelungen: „Ärgert dich dein rechtes Auge, so reiß es aus und wirfs von dir.“ (Matthäus 5, 29) An anderer Stelle ver­langt Jesus von den Seinen, dass sie ihr „eigen Leben“ hassen (Lukas 14,26). Und Franz von Assisi wird der Ausspruch „Mein Feind ist mein Körper“ zugeschrieben. Bei aller Selbstbestrafung im religiösen Wahn: Der christli­che Kampf gegen das Es forderte seine Opfer unter denjenigen, auf welche die verbotenen (analen) Triebregungen projiziert wurden — „Juden“, „Ketzer“, „Hexen“. Auch im Blick auf die islamistische Reaktionsbildung auf die Moderne kann vermutet werden: Je lust- und lebensfeindlicher, je narzisstischer, eine Reli­gion oder ein religiöser Synkretismus, desto ausgeprägter seine Verfolgungsneigung ge­genüber denen, auf die das Verbotene oder nicht Integrierte projiziert wird.

An der Wiege des Christentums steht der narzisstische Wunsch nach der Erschaffung der Religion aus sich selbst. Diesem Narziss­mus gehorchte auch das (aufgrund des Has­ses auf die Geschlechtlichkeit) notwendige Dogma der unbefleckten Empfängnis, wel­ches unter diesem Gesichtspunkt auch und vor allem metaphorisch zu verstehen ist: Chris­tus wie das Christentum als Mythos der Selbst­zeugung. Verdrängt ist so die Geburt, die den Narzissmus der Unendlichkeit stört und zu­dem an Körperlichkeit gemahnt.

„Christus ist doppelt: zeitlos, ist er Gott; ‚Wahrlich, wahrlich, ich sage Euch: Ehe Ab­raham ward, bin ich‘, lässt Johannes ihn sagen (8,58). Christus tritt so aus der grammatischen Logik der gewöhnlichen Sprache heraus; (...) er situiert sich außerhalb der Abstammungs­linie Abraham-Isaak-Jakob, die diesen nicht­darstellbaren und unaussprechlichen Gott be­wundert, dem der Judaismus die gesamte narzisstische Besetzung vorbehält, indem er sich jede Identifizierung mit der Gottheit unter­sagt; er wird eins mit dem Vater und dem Hei­ligen Geist (dem reinen Narzissmus); trotz­dem besteht er aus Fleisch und Blut und muss seine Körperlichkeit ebenso bekämpfen wie den biologischen, fetal-mütterlichen Ursprung seines eigenen Narzissmus. Er ist ein Wider­spruch, eine Paradoxie, aus der er herauszu­treten versucht, indem er dieses menschliche Übel auf die Nichtgetauften projiziert: die Juden.“ [29]

Der Antisemit und Theoretiker des Männ­erbundes, Hans Blüher, hat den Narzissmus der Körperlosigkeit in den Evangelien instinktiv erkannt: „Jesus ist also ohne Sexus. Dagegen hat Jesus Eros. Und zwar in höchst gesteiger­ter Form. Und zwar ist dieser ausgesprochen heidnisch. Er bezieht sich nämlich, das wissen wir mit Sicherheit, auf das eigene Ge­schlecht.“ [30] Tatsächlich ist diese narzisstische Liebe eben darin unterschieden von der Ho­mosexualität: Sie ist „ohne Materialität, oh­ne Substanz, ohne Pragmatismus, ohne libidinöse Logik. Es handelt sich um eine Liebe an sich, um einen Glauben an sich, geschützt von den Komplikationen, die der Sexualtrieb unweigerlich mit sich bringt.“ [31]

Institutionalisierung

Am Konzil von Nizäa (325) wurde Chris­tus endgültig zu Gott erklärt. Diese Vergöttlichung brauchte zur Ergänzung die Verteu­felung des Judas und mit ihm der Juden und Jüdinnen. Ohne der Gottsetzung Christi „hät­te der Antisemitismus keinerlei Existenz­berechtigung gehabt.“ [32] Neben der Dogmatisierung war es vor allem die Konstituierung des Christentums als Staatsreligion, welche das Schicksal der Juden und Jüdinnen in Eu­ropa auf Jahrhunderte besiegeln sollte. Aus den FeindInnen der Religion wurden im vier­ten Jahrhundert FeindInnen des Reiches, die einer entsprechenden Ausnahmegesetzgebung unterstellt wurden. Für den Antisemitismus als sich selbst erfüllende Prophezeiung kann dieser Aspekt gar nicht überschätzt werden: Erst mittels staatlicher Repression konnte die behauptete Überlegenheit der christlichen über die jüdische Religion im Alltag eine Ent­sprechung finden.

Mit der Etablierung der Kirche als Ver­walterin des Schuldgefühles und ihrem Bünd­nis mit der weltlichen Macht findet der christ­liche Narzissmus jedoch auch eine ödipale Einschränkung. Dass sich die Kirchenväter in ihrem militanten Antisemitismus geradezu wechselseitig Überboten haben, kann als Ant­wort auf diese Paradoxie verstanden werden: Gegen das Wissen um den Verrat am Glau­bensgrundsatz, wonach das Reich Jesu nicht von dieser Welt sei, zeigte sich die „Gefolg­schaft gegenüber dem Geist der Evangeli­en“ [33] in immer perfideren Anschuldigungen und Diskriminierungen.

Gegenüber einem unreflektierten Antiklerikalismus, der besonders in Österreich nicht immer mit fortschrittlichen Positionen identisch war und ist, sollten dennoch die Kirchen bei aller notwendigen Kritik in Schutz genommen werden. Auch und gerade vor je­ner neuen Spiritualität, die unter dem Ban­ner eines erneuerten Narzissmus gegen die Kirchen anrennt, weil sich dort „ein nicht-re­ligiöser (i.e. ödipaler, Anm. A. P.) Geist ver­breitet hat.“ [34] Es ist der im Christentum selbst schon angelegte Mystizismus, welcher sich aktuell gegen die verwaltete und damit in ihrem Narzissmus etwas gezügelte Religion in sein Recht zu setzen versucht. Von daher gehört schon eine ordentliche Portion an Blindheit gegenüber den Gefahren der pri­vatisierten und eben so regelmäßig zu Lasten der Juden und Jüdinnen gehenden Sinnsu­che dazu, wenn man wie Rüdiger Safranski die „neu erwachende religiöse Sehnsucht (...), die sich gerade nicht an Dogmen, Institutio­nen oder rituellen Formen festhalten möch­te“, [35] begrüßt.

Seit 2000 Jahren: Gottesmord

Hubsi Kramar, passionierter Hitlerdarsteller und Galionsfigur des linken „Wider­standes“ gegen die FPÖVP-Regierung, sprach am 29.11. in Puls TV anlässlich der Premiere des von ihm inszenierten „Großinquisitors“ über die politische Ak­tualität des Dostojewskij-Textes: Vom Fol­terkeller im mittelalterlichen Spanien nach Guantanamo und Abu Ghraib: „Das fin­det immer wieder statt, dass Christus ge­foltert wird.“ Das Stück spiele „irgendwo im Irak“ und Christus erscheint Kramar als „gefangener Terrorist“. Um noch die/den Begriffsstutzigste/n auf die richtige Spur zu bringen, machte Kramar, der die islamisti­sche Mordbrennerei im Irak mit einer Zehn-Euro-Spende an die nationalbolsche­wistische Antiimperialistische Koordinati­on (AIK) unterstützte, schließlich „das aus­erwählte Volk“ für Krieg und Terror ver­antwortlich.

[1Die Furche, Nr. 47/04, S. 9

[2Anhand der Christlich-Deutschen Tischgesellschaft lässt sich beispielhaft zeigen, wie v.a. der narzisstische Wunsch nach Reinheit den religiösen mit dem rassistisch argu­mentierenden Antisemitismus, den His­torikerInnen erst mehr als 70 Jahre später beginnen lassen, verbindet: Ein „Arierpara­graph“ schloss auch Konvertierte aus, und Achim v. Arnim schlug zum Schutz vor der Infiltration durch „heimliche Juden“ vor, „die chemischen Kennzeichen (von Juden, Anm.) in ein zuverlässiges System zu brin­gen“. Dazu sollten diese in ihre „Bestand­teile“ aufgelöst werden, damit die jüdische Besonderheit in den kleinsten Teilchen ge­funden werden könne.

[3Dies gilt nicht nur für die Beschäftigung mit dem Christentum: Die Mitgliedschaft in der Gemeinschaft der Gläubigen alleine reicht nicht aus, um den jeweiligen Antisemitis­mus ursächlich zu erklären. Die eigentlich banale Feststellung, dass nicht jede/r Chri­stIn (und Muslime) automatisch antisemi­tisch ist und dass es auch jüdische Antise­mitInnen gibt, verweist auf die Notwen­digkeit von ergänzenden Erklärungsansät­zen, die andere Determinanten des Antise­mitismus zum Gegenstand haben.

[4Detlev Claussen: Über Psychoanalyse und Antisemitismus, in: ders.: Aspekte der All­tagsreligion. Ideologiekritik unter verän­derten gesellschaftlichen Verhältnissen. Frankfurt a. M. 2000, S. 109.

[5Für die Kontinuitätsthese spricht nicht nur die Beharrlichkeit der antisemitischen An­schuldigungen und Diskriminierungen seit Entstehung des Christentums, sondern auch die Tatsache, dass der mit „Rasse“ argu­mentierende Antisemitismus nicht ohne Rückgriff auf den „Geist“ oder die „Kultur“ auskam. Und hat sich nicht Hitler selbst als Produkt der „Vorsehung“, als einer, der „das Werk des Herren“ vollendet, bezeichnet?

[6Dan Diner: Der Sarkophag zeigt Risse. Über Israel, Palästina und die Frage eines „neuen Antisemitismus“, in: Doron Rabinovici, et al. (Hg.): Neuer Antisemitismus? Eine glo­bale Debatte. Frankfurt a. M. 2004, S. 320.

[7Max Horkheimer/Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt a. M. 1991, S. 185.

[8Ebd.

[9Theodor W. Adorno: Studien zum auto­ritären Charakter, Frankfurt a. M. 1995, S. 54

[10Vgl.: Andreas Peham: Pathologische Mas­senbildung gegen Juden und Jüdinnen — Zur Psychoanalyse des Antisemitismus, in: Con­text XXI, Nr. 8/2002-1/2003, S. 21-26.

[11Bela Grunberger/Pierre Dessuant: Nar­zissmus, Christentum, Antisemitismus. Eine psychoanalytische Untersuchung. Stuttgart 2000, S. 351

[12Dierk Juelich: Abspaltung und Projektion — Zur Psychodynamik antisemitischer Struk­turen, in: Helmut Schreier/Matthias Heyl (Hg.): Die Gegenwart der Schoah. Zur Ak­tualität des Mordes an den europäischen Ju­den. Hamburg 1994, S. 176

[13Ebd., S. 181.

[14Grunberger/Dessuant, a.a.O., S. 26.

[15Horkheimer/Adorno, a.a.O., S. 186.

[16Ebd.

[17Ebd., S. 188.

[18Ebd.

[19Emanuel Hurwitz: Bockfuß, Schwanz und Hörner. Vergangenes und Gegenwärtiges über Antisemiten und ihre Opfer. Zürich 1986, S. 124.

[20Grunberger/Dessuant, a.a.O., S. 88.

[21Vgl.: Gerald Messadie: Verfolgt und aus­erwählt. Die lange Geschichte des Antise­mitismus. München, Zürich 2001, S. 97ff.

[22Michael Ley: Kleine Geschichte des Anti­semitismus. Stuttgart 2003, S. 18.

[23Ebd., S. 49.

[24Ernst Simmel: Antisemitismus und Massen-Psychopathologie, in: ders. (Hg.): Anti­semitismus. Frankfurt a. M. 1993, S. 84; vgl.: Sigmund Freud: Der Mann Moses und die monotheistische Religion, in: GW XVI, S. 190.

[25Simmel, a.a.O., S. 80.

[26Bernhard Dieckmann: Judas als Sünden­bock. München 1991, S. 72.

[27Emanuel Hurwitz: Judas und die Juden, in: Helmut Schreier/Matthias Heyl (Hg.): „Daß Auschwitz nicht noch mal sei ...“ Zur Erziehung nach Auschwitz. Hamburg 1995, S. 70.

[28Grunberger/Dessuant, a.a.O., S. 93.

[29Ebd, S. 13.

[30Zit. in: Ulrike Brunotte: Zwischen Eros und Krieg. Männerbund und Ritual in der Moderne. Berlin 2004, S. 89.

[31Grunberger/Dessuant, a.a.O., S. 25.

[32Ebd., S. 134.

[33Ebd., S. 374.

[34Safranski in: Die Furche, Nr. 47/04, S. 9.

[35Ebd.

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