FORVM, Heft 173
Mai
1968

Von Marx bis zum Marxismus

Tucker, Calvez, Kägi

Marxisten und Antimarxisten haben zu gleichen Teilen beigetragen, Namen und Werk von Karl Marx unter einem Schlamm von Klischees und stereotypen Polemiken zu begraben: Idol der einen, Schimpfwort der anderen. Der Kalte Krieg ordnete die intellektuelle Arbeit den Erfordernissen der Propaganda unter. So schien es ausgeschlossen, die Theorie von Marx einer unbefangenen und kaltblütigen Überprüfung zu unterziehen. Dazu kam, daß die Methodik der positiven Wissenschaften sich immer weiter von dem entfernte, was Marx an seinem geschichtlichen Ort unter „Wissenschaftlichkeit“ begreifen konnte. Seine Theorie, welche die Philosophie, Politik, Nationalökonomie, Geschichte und Soziologie umschließt, wurde demnach von den Hütern der strengen Methode als irrationale Mythologie oder Theologie abgefertigt. Es war das große Verdienst der Frankfurter Schule, zumal der nie genug gewürdigten Arbeiten von Alfred Schmidt, an einer von bornierten Erwägungen — seien sie politischer oder positivistischer Abkunft — unbelasteten Marx-Interpretation festzuhalten. Die theologische Beschäftigung mit Marx dagegen hat mehr zur Verwirrung als zur Aufklärung beigetragen.

Geschichtliche Entwicklungen beginnen die Versteinerung des Marxbildes aufzusprengen. Einmal die Auflösung der weltpolitischen Blöcke, die auf beiden Seiten des Schützengrabens eine größere Unbefangenheit Marx gegenüber erlaubt. Dann erkenntnistheoretische Diskussionen im Positivismus, die vom Spätwerk Wittgensteins ausgehen und die Axiome des logischen Positivismus (zumindest für die Gesellschaftswissenschaften) in Frage stellen. Zuletzt die Gefährdung des ökonomischen Wohlstandes, welche die Überwindung der von Marx diagnostizierten Widersprüche im Kapitalismus als problematisch erscheinen läßt. „Marx ist veraltet“ — das läßt sich heute wohl nicht mehr so unbeschwert wie noch vor einigen Jahren sagen. Umgekehrt mußten sich die osteuropäischen Nationalökonomen von der politischen und wirtschaftlichen Praxis darüber belehren lassen, daß die Theorie von Marx keine Orakelsammlung ist, deren Aufschlagen dem Benützer die Verpflichtung zum selbständigen Denken abnimmt. Der diskreditierte sowjetische Marxismus gilt nicht länger als der einzig legitime Erbe von Marx. Die Kluft zwischen Marx und dem Marxismus aller Spielarten wird immer größer.

Geheimer Religionsstifter

Die drei Bücher über Karl Marx, die hier besprochen werden, betonen — freilich mit unterschiedlicher Intensität — die Differenz zwischen dem Marxismus und der Lehre von Marx. Am stärksten Robert Tucker. [1] Er findet in Marx einen geheimen Religionsstifter und Theologen — vor dem müssen sich die Konzernherren nicht länger fürchten. „Marx sieht ebenso wie das Christentum das ganze Dasein als Geschichte; er erzählt im Grunde eine Geschichte mit einem Ablauf von Anfang, Mitte und Ende ... Nach der christlichen Lehre befindet sich der Mensch die ganze Geschichte hindurch im Sündenstand, aus dem er nur am Ende der Geschichte erlöst wird. Nach Marx befindet sich der Mensch die ganze Geschichte hindurch im Sklavenstand ... So ist für Marx die kommunistische Revolution nicht das Mittel, zu materiellem Überfluß zu kommen (obwohl auch dieser seiner Ansicht nach kommen wird), auch nicht, um eine gerechte Verteilung der Güter herbeizuführen, sondern um eine geistige Erneuerung des Menschen zu bewirken.“ Diese Auslegung stützt sich auf die moralisierenden Schriften des jungen Marx, zumal die Pariser Manuskripte. Die Parallele zwischen dem christlichen Sündenstand und dem marxistischen Sklavenstand ist falsch. Nach christlicher Auffassung ist ja der Mensch seit der Einsetzung der Sakramente nicht mehr schlechthin im Sündenstand, während sich für Marx nicht „der Mensch“ im Sklavenstand befindet, sondern nur eine Klasse von Menschen. Und Marx trennte sich von den Junghegelianern gerade deshalb, weil er statt einer „geistigen Erneuerung“ die reale Veränderung der Welt erstrebte. Hier wird Marx so wenig ernstgenommen wie die Theologie. Tucker brilliert darin, eine genaue Kenntnis der Texte mit deren oberflächlicher Interpretation zu verbinden.

Ebenso leichtfertig ist die Reduktion der Marxschen Theorie auf psychiatrische Begriffe. „Kurz gesagt, Hegels Weltgeist ist eine neurotische Persönlichkeit.“ Tucker meint das ernst. Er will den Marxismus als eine sich selbst mißverstehende Psychologie auslegen. „Entfremdung ist ein alter psychiatrischer Begriff zur Bezeichnung für den Verlust der persönlichen Identität oder des Gefühls persönlicher Identität. Marx wendet ihn ganz akkurat auf den Menschen an, den er in seinen (sc. Pariser) Manuskripten schildert. Das, was er als Selbstentfremdungsprozeß beschreibt, ist auch genau das, was der Begriff meint. Es ist ein erkennbares psychiatrisches Phänomen, eine Krankheit des Selbst.“ Das gilt nur, wenn man den Unterschied zwischen der Sphäre der Psychologie und der der Soziologie völlig einebnet. Marx hatte nie den Verlust der persönlichen Identität im Auge, sondern den Verlust der Identität zwischen Individuum und Kollektiv — also keinen psychischen, sondern einen gesellschaftlichen Tatbestand. Tucker ignoriert das: „Was Marx also in der Gesellschaft sieht, ist ein System eines psychischen Konflikts, ein gespaltenes Selbst, ins Große übertragen.“ Wäre das richtig, dann hätte der junge Marx nicht Hegel, sondern Freud gelesen.

Fetisch Entfremdung

Das Marxbuch des französischen Jesuiten Jean-Yves Calvez unterscheidet sich von den Marxinterpretationen deutscher Theologen wohltuend dadurch, daß Calvez nicht voreilig theologische Kategorien aus der Theorie von Marx herausliest. [2] Der Anspruch der Theorie, eine dialektische Analyse der Gesellschaft zu sein, wird von Calvez ermstgenommen. Er hält sich an den Grundsatz immanenter Kritik: „Es ist möglich, das Denken von Marx genauso ungetrübt zu studieren, wie man das Denken irgendeines anderen Philosophen, eines anderen Soziologen studieren kann. Wenn wir uns mit der marxistischen These der Einheit von Theorie und Praxis auseinandersetzen, können wir diese Lehre also nur explizieren, indem wir Schritt für Schritt die Schwierigkeiten betonen, die sie mit sich bringt. Um dem Grundsatz der Objektivität treu zu bleiben, genügt es, sich zu versagen, diese Schwierigkeiten jemals anders erscheinen zu lassen, als sie aus der Sache selbst entspringen.“ Sartre hat zu Unrecht diese Sätze angegriffen. Auf Grund dieser methodischen Voraussetzung gelingt es Calvez, ein umfassendes und präzises Bild der Marxschen Theorie zu zeichnen. Calvez besteht auf der Einheit des jungen mit dem reifen Marx — ohne doch, wie Tucker, das Spätwerk von den Frühschriften her auszulegen und zu kritisieren. Es gibt keine unüberbrückbare Differenz zwischen den Pariser Manuskripten und der Kritik der politischen Ökonomie.

Gegen die modische Überbewertung des jungen Marx muß freilich gesagt werden, daß die Frühschriften die Motive des Hauptwerkes nur in oft verschwommener und unangemessener Form enthalten. So ist es gewiß unzulässig, die Marxsche Kritik am Kapitalismus auf den Begriff der „Entfremdung“ (diesem Fetischwort der Pariser Manuskripte) zu reduzieren — Marx hat sich ja in der „Deutschen Ideologie“ deutlich genug von diesem Begriff distanziert. Auch ein so gründlicher Marxkenner wie Calvez sieht nicht, daß sich für Marx um 1850 die Perspektive verschiebt: Im Anschluß an Feuerbach zielen die Jugendschriften auf eine subjektive Anthropologie des durch den Kapitalismus entfremdeten Menschen; dies gilt noch für das Kommunistische Manifest. Die Arbeit des reifen Marx aber zielt auf eine objektive, systematische Analyse der Bewegungsgesetze in der Gesellschaft; Entfremdung ist darin als ein bloß subjektives Moment aufgehoben. Das ist gleichsam ein Rückgang von Feuerbach zu Hegel. Der späte Marx war ein besserer Hegelianer als der junge Marx.

Die kritischen Notizen, die Calvez den Argumentationen von Marx hinzufügt, sind stets unpolemische, die Sache selbst aufschließende Gedanken. Etwa die Frage: Wie kann der Marxismus, der aus der bisherigen Geschichte — der „Vorgeschichte“ — ausbrechen will, diesen Ausbruch mit den Mitteln der bisherigen Geschichte durchführen? Mittel und Zweck stehen in einem unauflösbaren Gegensatz zueinander. Die Praxis des kommunistischen wie des sozialdemokratischen Marxismus ist ja stets an diesem Punkt gescheitert. — An einer anderen Stelle erliegt Calvez freilich einem verbreiteten Mißverständnis. Marx habe angeblich die ökonomische Sphäre, wie sie dem entwickelten Kapitalismus zugrunde liegt, als das ontologische Grundgesetz der bisherigen Geschichte angesehen. Dann stellt sich die Frage, wie es in der „ursprünglichen Akkumulation“ zur ungleichen Verteilung der Naturgüter kommen kann, die konsequent die Aneignung des Mehrwerts durch den Kapitalbesitzer verursacht. Calvez behauptet, diese Frage ließe sich auf dem Boden der Marxschen Theorie nicht länger beantworten; man müsse eine außerökonomische Erklärung, nämlich den „Willen zur Macht“, heranziehen. Damit aber sei die rein ökonomische Erklärung der Geschichte gesprengt.

Dagegen ist festzuhalten, daß Marx — im Gegensatz zum späteren Marxismus — gar keine universale Erklärung aller geschichtlichen Tatsachen bezweckte; sein Interesse richtet sich auf den Kapitalismus, die Geschichte vor dem Kapitalismus wird nur verkürzt ins Auge gefaßt. Marx leugnet nicht, daß der fundamentalen Ungerechtigkeit des Kapitalismus geschichtlich die rohe Gewalt zugrunde liegt. Die rohe Gewalt versteckt sich im entwickelten Kapitalismus in den anscheinend zivilisierten und humanen Gesetzen von Markt und Tausch. Die unbestechliche Gerechtigkeit der Nationalökonomie ist die sublimste und historisch letzte Form allen Unrechts in der Geschichte. Der „Wille zur Macht“, den Calvez gegen Marx ausspielt, ist eine ungenaue Metapher, die einen historischen und sozialen Tatbestand (den Klassenkampf) als psychischen Trieb interpretiert. Gäbe es auch einen feststellbaren psychischen Trieb, der als „Wille zur Macht“ interpretiert werden könnte, so läge er auf einer ganz anderen Ebene als die geschichtlich-kollektiven Gesetze, welche Marx analysierte. Ein psychischer Trieb ist zunächst weder gut noch böse — er erhält seinen moralischen Charakter erst in einem gesellschaftlichen Kontext. Alles Gute, sagt Nietzsche, war einmal etwas Böses.

Hegel durch Vermittlung

In der Hochkonjunktur einer leichtfertigen Hermeneutik ist das an der sorgfältigen Methodik der klassischen Philologie geschulte Buch von Paul Kägi über die Entwicklung des jungen Marx eine kostbare Seltenheit. [3] Mit schweizerischer Redlichkeit betont Kägi: „Ohne leugnen zu wollen, daß bei Marx wie bei anderen Denkern unbewußte Motive mit im Spiele waren, möchte ich doch den methodischen Grundsatz vertreten, daß wir nicht berechtigt sind, die entscheidenden Wandlungen einer geschichtlichen Persönlichkeit, besonders die eines Denkers, mit Hilfe der Psychologie des Unbewußten zu erklären, solange nicht die Mittel zur Erklärung auf der Ebene des Bewußtseins, also aus ihren bewußten Äußerungen und Taten, erschöpft sind. Und letzteres bestreite ich im Falle Marx, abgesehen davon, daß er ein Schulbeispiel eines bewußt lebenden, seine Gedanken ordnenden Menschen von seltener Ausdrucksfähigkeit darstellt.“ Auch wenn man mit Marx nicht übereinstimmt, muß man ihn deswegen noch nicht zum Psychopathen reduzieren.

Kägi zeichnet noch einmal den schon so oft beschriebenen Weg von Hegel zu Marx nach. Aber er begnügt sich nicht mit vagen geistesgeschichtlichen Analogien, sondern geht den Querverbindungen zwischen Marx und seinen Zeitgenossen wie Vorgängern mit philologischer Akribie nach — ohne deswegen die literaturgeschichtliche Kategorie „Einfluß“ ungebührlich zu überschätzen. Jedes große Werk ist aus dem Material unzähliger kleiner und oft vergessener Vorläufer erbaut. Jede große Individualität ist gleichsam die kollektive Leistung einer ganzen Epoche. — Kägi isoliert Marx nicht, sondern zeigt ihn in seinem zeitgeschichtlichen Kontext. Es stellt sich heraus, daß die Bedeutung Hegels für den jungen Marx — so wichtig sie war — zumeist von den Biographen überschätzt worden ist. Marx lernte Hegel schließlich durch die Vermittlung — und wohl auch durch die Vorurteile — der Junghegelianer kennen. Die entscheidende Wende im Denken von Marx markiert Kägi im ersten Pariser Aufenthalt im Winter 1843/44. Es waren nicht nur die theoretischen Schriften der französischen Sozialisten, sondern die persönliche Berührung mit der entstehenden Arbeiterbewegung in Paris, die Marx in kurzem aus einem distanzierten Beobachter zu einem leidenschaftlichen Anhänger des Kommunismus machten. Die Entdeckung des „Proletariats“ war also weder eine logische Konsequenz der Hegelschen Philosophie (wie Tucker behauptet) noch eine Auswirkung einer Marxschen Neurose. Kägi erwähnt allerdings nicht das Werk von Lorenz von Stein, der ungefähr zur gleichen Zeit wie Marx die geschichtsphilosophische Rolle des Proletariats analysierte. — Bedauerlich, daß der Autor sein Buch nicht mehr vollenden konnte. Gerade das fehlende Schlußkapitel, das die Entwicklung vom Kommunistischen Manifest zur Kritik der politischen Ökonomie behandeln sollte, wäre am interessantesten gewesen. Denn in dieser Zeitspanne hat Marx sich von den Vorurteilen der Junghegelianer befreit und das Konzept der materialistischen Dialektik ausgeführt.

[1Robert Tucker, Karl Marx. Die Entwicklung seines Denkens von der Philosophie zum Mythos. Aus dem Englischen von Wolfgang Kessel. C. H. Beck’sche Verlagsbuchhandlung, München 1963

[2Jean-Yves Calvez SJ, Karl Marx. Darstellung und Kritik seines Denkens. Aus dem Französischen von Theodor Sapper. Walter-Verlag Olten und Freiburg im Breisgau 1964.

[3Paul Kägi, Genesis des historischen Materialismus. Karl Marx und die Dynamik der Gesellschaft. Europa-Verlag Wien 1965.

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