ZOOM 6/1997
Oktober
1997

Warum lesen?

ein bericht von der Mainzer MiniPressenMesse 1997

Wieso bücher?, fragt Klaus Wagenbach sich u. andere anläßlich des dreißigjährigen jubiläums des Wagenbach verlages. verschiedene schreibende versuchen darauf eine antwort zu geben (erschienen 1994 bei Wagenbach).

wieso bücher, fragen wir uns, halb scherzhaft u. ironisch, aber durchaus an so etwas wie „antworten“ interessiert im zehnten jahr der „Das fröhliche Wohnzimmer-Edition“ 1997, insbesondere im augenblick, als wir, beladen mit rucksäcken u. mit zwei handtaschen auf rädern, das erste zelt der MMPM (Mainzer MiniPressenMesse) betreten.

zwei zelte voller bücher – das ist die MMPM, zu der sich alle zwei jahre kleinverlage, handpressen, fanZines, politische zeitungen u. initiativen mit ihren publikationen zusammenfinden. das lesen, wenngleich immer wieder für unzeitgemäß erklärt, kommt anscheinend nicht, oder nicht ganz aus der „mode“. als wir ankommen, sind die meisten tische noch leer u. während wir schon vor unserem vollgeräumten verkaufstisch sitzen, beobachten wir die anderen kleinverlegerInnen beim auspacken, beim hereinschleppen von schachteln, kartons u. reisetaschen, beim schlichten u. stapeln, beim drapieren des – meist bescheidenen – werbematerials. papier papier, wohin das auge reicht ...

WIESO BÜCHER?

wir gehen herum, schauen uns die anderen stände an. viele bieten außer büchern auch anderes bedrucktes material an. der KrashVerlag hat z. b. einen stadtplan von Mainz herausgebracht, in dem die straßennamen dem MMPM-geschehen entsprechend geändert sind: URBAN ROUTES – die stadt als buch. hier finden wir nicht nur das „Fröhliche Wohnzimmer“-Gäßchen sondern auch etwa die „Große Staufreunde Straße“, benannt nach einer aktion von Claudia Pütz, die jeden verkehrsstau als (unangemeldete) demo verstanden sehen wollte – und damit sarkastisch auf die große „toleranz“ der verkehrsteilnehmerInnen gegenüber von autos verursachten behinderungen hinwies.

mein zahnarzt (sehr zu empfehlen) fragte mich neulich während der zahnbehandlung, ob ich glaube, daß es möglich sei, die bücher, die während eines jahres auf deutsch erscheinen, als einzelner mensch tatsächlich zu lesen, wenn man die möglichkeit hätte, das lesen zum hauptberuf zu machen. ich (mit geöffnetem mund, den absauger im mundwinkel) sah mich außerstande zu einer antwort, die mir, im nachhinein jedoch, nicht schwer fällt: sie heißt nein. sie heißt auf jeden fall nein, insbesondere jedoch dann, wenn wir lesen nicht nur als mechanische tätigkeit verstehen und uns im schnellen hinter-sich bringen des lesevorganges üben, wie es neulich in einer studentInnenzeitung den studierenden empfohlen wurde, die – auf der suche nach verwendbaren zitaten – den inhalt eines textes nicht unbedingt zur gänze verstehen, sondern nur das auffinden bestimmter stichworte trainieren sollten. statt „der hund ist rund“ würde es außerdem genügen, wenn nur „hund ... rund“ wahrgenommen wird. bei solchen tips zur leistungs-, besser: zitatkraftmaximierung wird nicht nur der schriftstellerin in mir ganz mulmig. sind hier nicht mißverständnissen alle türen und gehirnwindungen geöffnet? wird über kurz oder lang damit nicht die sprache wesentlicher eigenschaften, z. b. des darstellens von ambivalenzen beraubt, während der mensch sich in einen lebenden scanner verwandelt? von ästhetischen überlegungen will ich hier lieber schweigen, denn daß ästhetik nicht nur mit design für reiche bürgerInnen zu tun hat, gerät in diesem zusammenhang sowieso in vergessenheit.

WARUM LESEN?

gestern bekam ich per post ein paket „alter“ literaturzeitschriften von einem freund zugeschickt („perspektive“ 1983 bis 1991). hier wird versucht, eine brücke zwischen „engagierter“ literatur und politischem selbstverständnis zu bauen. der damals in linken kreisen geradezu zur pflichtlektüre gewordene Erich Fried hilft dabei mit:

Die Hauptaufgabe der Kunst

 
(Auszug, zitiert aus perspektive Nr. 13)
 
Ich hab gesagt:
"Die Hauptaufgabe der Kunst
ist der Kampf gegen Entfremdung
und Selbstentfremdung".
 
...
 
Wer nicht Entfremdung in sich
bekämpft schon lange bevor er
zur Feder greift oder zum Meißel
der hat verloren.

ich denke zurück an die literatur und kulturzeitschrift „Pflasterstein“, in deren redaktion ich 3 Jahre lang (1978 bis 1981) mitarbeitete. diskussionen nach der politischen wirksamkeit von literatur waren damals an der tagesordnung. allzu ästhetische ausschweifungen wurden verurteilt, wie auch „ausschweifung“ im allgemeinen nicht gern gesehen war. war sie nicht ausdruck bürgerlichen lebens? ausdruck des lebens von denen, die ihre arbeitskraft nicht verkaufen müssen, beziehungsweise dafür einen „angemessenen“ preis erzielten? daß diese ausschweifungsfeindlichkeit letztendlich u. a. zu doppelmoral und rigidität führte, zählte zu den „unerwünschten nebenwirkungen“ jenes „revolutionären“ (über)eifers.

WIESO BÜCHER?

ist literatur-lesen wirklich „nur“ LUXUS, ein luxus, auf den angesichts der steigenden armut und schwierigkeit bzw. unmöglichkeit, sich das lebensNOTwendige zu verschaffen, viele verzichten werden (müssen)?

ein luxus, den die freizeitindustrie aufgrund der tatsache, daß damit relativ wenig zu verdienen ist, immer weiter an den rand der möglichen freizeitaktivitäten stellt. und außerdem: willst du heute einigermaßen mithalten, mußt du deine freizeit dafür verwenden, dich für die verschiedenen märkte, an denen der mensch als tauschobjekt bestehen zu müssen glaubt, in form zu bringen. das heißt: fitness & wellness & welt des schönen scheins. körperliches wohlbefinden steht dabei eben NICHT an erster stelle, das kann nicht oft genug betont werden.

WARUM LESEN?

im gedicht von Erich Fried, aus dem ich weiter oben zitierte, kommt ein hinweis auf die „eigene“ weiterentwicklung vor, ohne die eine gesellschaftliche „weiter“entwicklung unmöglich ist. na gut, das ist ja ein altes argument: ich tu dann schon was gegen den kapitalismus, wenn ich daheim sitze und bücher lese, schreibe usw. das allein kanns ja auch nicht sein, auch wenn ich damit wenigstens keinen größeren schaden anrichte. von der seite der politischen aktivitäten stellt sich die frage, FÜR WEN (?) eigentlich diese ganzen veränderungen angestrebt werden, die (scheinbar) nur eine kleine minderheit angehen oder zumindest nur sie hinter dem ofen, dem fernsehapparat (oder dem BUCH?) hervorlocken. das denk ich mir in erinnerung an meine ersten frauendemo – vor vielen vielen jahren – wo mir eine frau unter der beschimpfung „du hure du“ den kleingeldinhalt ihres geldbörsels ins gesicht warf. damals: ich, noch jung, naiv, vielleicht – nein ganz sicher – auch „blauäugig“, war entsetzt darüber, daß sie nicht verstand, daß ich ja u. a. FÜR SIE auf der straße stand – und für eine schlecht bezahlte hure hielt sie mich außerdem mit ihrem mickrigen kleingeld, ergänzt mein schon etwas abgebrühteres selbstverständnis rückblickend aus der jetztzeit, wo ich „natürlich“ gelernt habe, auf zweifelnde fragen zweifelnde antworten zu (er)finden.

WIESO BÜCHER?

es wäre besser, wenn die menschen sich mit etwas „wirklich interessantem“ beschäftigen würden, sagt ein freund. dann kommen sie nicht auf blöde gedanken. ist das nun ein argument für oder gegen das lesen?

in der einladung der S.A.R.G.FABRIK zu einem literarischen event wird betont, daß es sich hier NICHT um dichtung aus dem stillen kämmerlein handelt, sondern, um – echt und wahrhaftig – SLAM POETRY, dichtung, die auf der straße, schnell usw. entsteht, wo nicht über ein einzelnes wort stundenlang nachgedacht werden muß, die aus der situation heraus geboren wird und deren autoren und autorinnen nichts mit dem kulturbetrieb am hut haben. leicht verärgert registriere ich, daß das stille kämmerlein offenbar in verruf geraten ist. mal abgesehen davon, daß es sich beim ausdruck stilles kämmerlein um ein ziemlich deftiges klischee handelt, war das „zimmer für sich allein“ auch durchaus etwas, was z. b. virginia woolf für ALLE frauen als möglichkeit forderte – als möglichkeit, zu sich selbst zu finden, das heißt, sich auch räumlich von den anforderungen der umwelt abzugrenzen. was ist denn dagegen zu sagen, daß jemand über ein wort stundenlang nachdenkt? etwa das, daß er in der zeit „etwas sinnvolleres“ (?) tun könnte? kein geringerer als Erwin Chargaff, im augenblick sehr beliebt, um die kritischen argumente gegen die gentechnologie mit kompetenz zu unterfüttern, fordert mehr beschäftigung mit kunst (und/oder ur- und frühgeschichte): dabei werden wenigstens keine entdeckungen gemacht, für die die zeit nicht (aber auch sonst nichts) reif ist, kein gröberer schaden wird angerichtet (mittäterInnen bleiben die harmlos beschäftigten natürlich trotzdem: zumindest als konsumentInnen). auf diese art und weise würde jedenfalls vielleicht ein wissen zusammengetragen, das scheinbar sinnlos ist, aber letztendlich doch zu einem – vielleicht – tieferen (auch selbst)verständnis führt, als wenn eine formel die nächste jagt, eine erkenntnis von der anderen abgelöst und vergessen wird, meint Chargaff. warum derselbe Chargaff das – vermeintliche – „verschwinden des reimes aus der dichtung und das verschwinden der melodie aus der musik“ beklagt, ist mir nicht ganz einsichtig, umso weniger der zusammenhang, den er dabei mit dem zustand der naturwissenschaften herzustellen versucht, aber: wie sagte schon der Wolfsmann (einer der berühmtesten Freud-patienten) über den ihn behandelnden Sigmund Freud: er war ein genie. aber auch genies können sich irren.

WARUM LESEN?

ich frage es mich ja selbst angesichts des angebotes der MMPM. was werde ich, was will ich lesen? würde ich, ganz unbefangene messebesucherin, bei einem stand stehenbleiben und welches wäre dieser stand? wäre es der stand des Fröhlichen Wohnzimmers? wäre es der stand unserer österreichischen nachbarn, des BLATTWERKs? wäre es der stand von „dichtung und wahrheit“, wo die alten nummern der gleichnamigen zeitung kostenlos verteilt werden. weil ich interessiert dreinschaue, krieg ich gleich noch ein „friedlicht“ dazu: das ist das infoblatt der deutschen friedensgesellschaft (DFG)/vereinigte kriegsdienstgegnerInnen, gruppe mainz. ich blättere das friedlicht durch, HUCH, ehschonwissen, immer das gleiche, unddashörtnichtauf: türkischer kriegsdienstverweigerer im militärgefängnis und im hungerstreik. es geht um osman murat ülke, der in seiner rede unterstreicht, daß er kein soldat werden wird. SEUFZ. man geht immer davon aus, daß es den „betroffenen“ etwas bringt, wenn die „öffentlichkeit“ informiert wird über geschehenes unrecht. ich unterschreibe eine unterschriftenliste und denke mir, daß das osman murat ülke nicht allzuviel bringen wird, hoffe aber, daß meine unterschrift zusammen mit vielen anderen unterschriften undsoweiter. wegen der aufschrift „soldaten sind mörder“ (ein satz von kurt tucholsky) bekam die DFG schwierigkeiten, nicht nur von verschiedenen firmen, etwa dem tassenproduzent schäfer shop, der die tassen ohne Tucholskys signatur nicht mehr herstellen wollte. die Tucholskystiftung (unter vorstandsvorsitzenden Fritz J. Raddatz) erzwang unter androhung eines bußgeldes wiederum die entfernung der signatur. seltsame wirren um einen alten satz von tucholsky ... darf man also ohne querverweis nicht sagen, daß soldaten mörder sind ...?

WARUM LESEN?

„radio quer muß her“ – radio quer hat keine sendeerlaubnis im raum mainz bekommen – wie es halt so läuft ... aber als der interviewer von radio quer mir die erste frage stellt, hab ich plötzlich das gefühl nicht einem mitarbeiter eines freien radios, bei dem ich doch ein gewisses politisches selbstverständnis voraussetze, sondern einem jungen ahnungslosen möchtegernjournalisten gegenüber zu stehen. er erwischt uns „zum interview“ nach einer etwas verunglückten abendveranstaltung zum thema erotik, die ein mir unbekannter älterer herr mit „philosophischen“ sexistisch-chauvinistischen ERGÜSSSEN über „mannsgeile weiber“ eröffnet, wobei einige frauen und männer pfeifen und mißfallensäußerungen von sich geben. immerhin wird nachher ein text von Brigitte Bee mit verteilten rollen vorgetragen, was den schlechten eindruck der ersten darbietung teilweise wettmacht. unter anderem liest auch Fritz Widhalm (mit dem ich gemeinsam im FRÖHLICHEN WOHNZIMMER wohne) aus seinem text „Ein schwarzer Herrenschirm“. wenn Fritz aus diesem text liest, mach ich mir immer sorgen. es ist gar nicht so leicht zu sagen, worum es in dem text geht, eindeutig ist jedenfalls das männliche „ich“ schwul und in der passiven rolle innerhalb einer – vielleicht fantasierten, vielleicht realen – S/M beziehung. das scheint männliche zuhörer einigermaßen zu verunsichern, jedenfalls, so O-ton Fritz, bewirkt sein erscheinen am pissoir dann das zurückweichen der anderen pinkelwilligen an das andere ende der pinkelrinne. nach der lesung ist es mitunter sehr still und mir, die ich das publikum dann immer mißtrauisch beäuge, kommt vor, daß vor allem die männlichen gäste auf fritz schauen und sich gedanken über sein sexualleben machen. das wissen, daß ein „ich“ im text nicht zwangsläufig mit dem autor und schon gar nicht zwangsläufig mit dessen gelebter realität ident sein muß, verschwindet, sobald fritz von lusterlebnissen durch anal-rektale erfahrungen liest. vor diesem hintergrund fragte mich der interviewer also: „bist du lesbisch?“ na klar, er dachte sich, der, den ich bisher für ihren „haberer“ gehalten hab, ist augenscheinlich schwul, also muß sie lesbisch sein.

ich war nicht willens, die frage eindeutig zu beantworten, was natürlich auch an meinen schwierigkeiten liegt, mich zu einer sexuellen orientierung zu BEKENNEN. das hätte nur einen sinn, wenn es nicht hetero ist, weil es dann sozusagen eine FUNKTION gegenüber der heterosexuellen zwangsmoral erfüllt. etwas sträubt sich in mir, zu sagen: nein, ich bin nicht lesbisch, das klingt ja wie ein religionsbekenntnis, also auf jeden fall nach mehr, als ich meiner heterosexuellen lebenspraxis an gewicht beimessen will. der interviewer ist jedenfalls auf die idee gekommen, ich „könnte lesbisch sein, weil ich so kurze haare hab“ und das, naja, ist ja nun wirklich ziemlich seltsam. Fritz reagiert flotter: als er gefragt wird, ob er schwul ist, sagt er, er sei polymorph pervers. haha, lacht da der interviewer: HAHA.

WIESO BÜCHER?

... (frage ich eine freundin, die mir am telefon erklärt, daß eine kontinuierliche beteiligung und auseinandersetzung aller menschen mit dem, was als kunst oder „kultur“ so leicht in den bereich des unNOT-WENDIGen verbannt wird, also auch eine diskussion über NOT & notWENDIGKEIT die welt nachhaltig – sie verwendete das wort nachhaltig – zum besseren verändern könnte – sie blieb beim konjunktiv) ...

Das Fröhliche Wohnzimmer mit Enno Stahl

es ist immer eine so wunderbare sache, wenn man ein buch schreibt„, läßt Richard Brautigan in seinem buch“die abtreibung„eine alte frau sagen, die ihr buch in die große bibliothek der ungelesenen bücher bringt:“ein wuchtiges etikett klebte auf dem umschlag, und auf dem etikett stand mit breitem grünen buntstift der titel: wie man bei kerzenschein in hotelzimmern blumen züchtet.

und ich widme diesen text allen, die sogenannte „unnötige bücher“ lesen, auch mir, und allen, die in dieser „unnotwendigkeit“ auch etwas notwendiges sehen: eine unnotwendigkeit, die die grenzen des notwendigen (und der NOT?) zeigt und in frage stellt, damit nicht so leicht ALLES und WIR ALLE unnotwendig werden.

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