Streifzüge, Heft 36
März
2006

Wenn uns die Arbeit ausgeht …

Eine seltsame Sucht beherrscht die Arbeiterklasse aller Länder… Es ist dies die Liebe zur Arbeit, die rasende bis zur Erschöpfung der Individuen und ihrer Nachkommenschaft gehende Arbeitssucht. Statt gegen diese geistige Verirrung anzukämpfen, haben die Priester, die Ökonomen und die Moralisten die Arbeit heilig gesprochen. Blinde und beschränkte Menschen, haben sie weiser sein wollen als ihr Gott… haben sie das, was ihr Gott verflucht hat, wieder zu Ehren zu bringen gesucht.

(Paul Lafargue) [1]

Wer diesen Text heute in prekärer Lage, also von Arbeitslosigkeit bedroht oder betroffen, liest, der wird ihn zynisch oder frivol finden. Als ob, was verzweifelte Angewiesenheit ist, nur eine verirrte Neigung, eine fehlgeleitete Begierde, kurz eine „seltsame Sucht“ sei. Als sei das die tiefere Ursache der gegenwärtigen Krise der Arbeit, dass wir so verteufelt vernarrt in sie sind, dass wir so versessen darauf sind, Arbeit zu verrichten statt dem edlen Müßiggang zu frönen, und als sei die Arbeit nur deshalb so knapp, weil sich alle so nach ihr drängeln. Dabei wird, andererseits, den Arbeitsuchenden von den modernen Zynikern ganz anderes eingeschärft: „Wer Arbeit will, der kriegt auch welche.“ Was nun also: Ist die Mehrheit der modernen Lohnsklaven arbeitssüchtig oder arbeitsscheu?

Aber ist Lafargue denn wirklich ein Zyniker? Oder können wir mit seiner Hilfe einige der unumstößlichen Satzwahrheiten in Frage stellen, welche uns tagtäglich als die Quintessenz der ökonomischen Vernunft eingebläut werden – einer besonderen Abteilung von Vernunft übrigens, die sich im allgemeinen Bewusstsein längst als die Vernunft schlechthin etabliert hat?

Die Heiligung der Arbeit

Lafargue sagt der Arbeit nach, sie sei die „Ursache des geistigen Verkommens und körperlicher Verunstaltung“. Das mag in dieser zugespitzten Form ein Spezifikum der Zeit der Frühindustrialisierung gewesen sein, aber gleichwohl ist doch den allermeisten auch heute die Arbeit eine solche Last, dass sie von der eigentlichen Lebenszeit als Zeit des Nicht-Lebens subtrahiert wird. Das Leben findet außerhalb der Arbeit statt, wenn es denn stattfindet. Und trotzdem steht , Arbeit‘ den Umfragen zufolge an der ersten Stelle der Lebenshoffnungen. Was macht die Lohnarbeit so attraktiv, dass niemand auf die Idee verfällt, sie zu ächten, wie man einst die Sklavenarbeit ächtete, nicht einmal die, die sich abrackern um ein karges Entgelt als Tausch für ihre verlorene Lebenszeit einzuhandeln, und noch weniger die, denen der Zugang zur Arbeit überhaupt verweigert wird? Niemand würde es wagen, auf die Arbeit zu pfeifen. Denn sie ist heutzutage nahezu die einzige Möglichkeit, sein Auskommen zu finden. Eigentlich garantiert für die allermeisten nur die Lohnarbeit den Lebensunterhalt. Also könnte man meinen, dass die Verehrung, die die Arbeit genießt, gar nicht ihr selbst gilt, sondern dem Lohn, der dabei abfällt. Das würde aber nicht erklären, warum diejenigen, die aus dem Arbeitsprozess verstoßen werden, sich nicht nur materiell geschädigt, sondern vor allem ausgestoßen fühlen, nicht mehr zugehörig. Warum also löst Arbeitslosigkeit solche dramatischen Sinnkrisen aus?

Arbeit ist knapp, oder besser: sie ist künstlich verknappt und wird tagtäglich rarer. Man braucht sich nur die mit düsterer Stimme vorgetragenen Nachrichten über Firmenzusammenlegungen und die sie begleitende „Freisetzung“ der Arbeitenden zu Tausenden zu vergegenwärtigen um diese Tendenz allen anders lautenden Beschwörungen zum Trotz für unumkehrbar zu halten. Wir leben aber in einer Gesellschaft, in der alles, was knapp ist, in höchstem Ansehen steht, während das überreichlich Vorhandene naserümpfend für minderwertig erklärt wird. Das führt zu der perversen Situation, dass die Verehrungswürdigkeit der Arbeit in dem Maße steigt, in dem sie immer knapper wird, obwohl durch diese Verknappung der Arbeits- und Leistungsdruck und die zeitliche Beanspruchung für die Einzelnen immer mehr anwachsen, obwohl also moderne Arbeitsverhältnisse immer mehr Ähnlichkeit mit überwunden geglaubter Sklavenhalterschaft annehmen:

Während ich dies schreibe, kommt der lange und ungeduldig erwartete Techniker des Telefon-Störungsdienstes ins Haus um den Schaden, den ein Blitz angerichtet hat, zu beheben. Er kommt gewissermaßen im Laufschritt. Den ihm angebotenen Kaffee akzeptiert er beinah widerwillig und kippt ihn hastig hinunter, während er schon mit fliegenden Händen die notwendigen Verrichtungen erledigt. Er wirkt geradezu schweißgebadet und macht – das sei zu seiner Ehre gesagt – es dennoch möglich, freundlich zu bleiben, ja uns sogar bei der Diagnose weiterer Schäden zu helfen, die ihn wegen der strikten Auftragsaufteilung und -erteilung gar nichts angehen oder angehen dürfen. Ihm unterläuft bei seiner hastigen Arbeit ein Fehler, den er mit einem nervösen Blick auf die Uhr korrigiert. Sein Kommentar: „Je schneller das gehen muss, desto ineffektiver werde ich.“ Nach Erledigung seines Auftrages hetzt er zu seinem Auto, um weitere Kundenaufträge ,abzuarbeiten‘. Er ist gewiss ein guter und verständiger Techniker, und ich habe enormen Respekt davor, dass er es sich leistete, sich um unsere Belange zu kümmern, die ihn nur in noch größere zeitliche Bedrängnis brachten. Als er fortfährt, frage ich mich, wie lange der Mittvierziger das noch durchhalten kann, und ich bin gar nicht mehr so sicher, dass die körperliche Zermürbung der Arbeitenden ein Spezifikum der Frühindustrialisierung war. Dennoch wird auch dieser gejagte Techniker in den Chor derer einstimmen, die die Arbeit als das höchste Gut besingen. Denn noch einmal: Je knapper und zugleich zwingender die Arbeit wird, desto heiliger und unantastbarer steht sie da.

Spätestens an diesem Punkt müsste die Frage nach den Profiteuren dieser irrigen Anschauung ins Spiel kommen. Aber so sehr verbindet sich schon jetzt mit dem Besitz eines Arbeitsplatzes die Vorstellung, einer Elite zuzugehören, dass sich diese mickrigen Eliten der niederen Ränge hineinphantasieren in die Zugehörigkeit zu den ,Happy few‘ und deshalb ihre ,Privilegien‘ mit Zähnen und Klauen gegen die Habenichtse verteidigen. Und die wiederum verfügen nicht über so viel Definitionsmacht, dass sie den Spieß einfach umdrehen und daran erinnern könnten, dass in der antiken Gesellschaft überhaupt nur derjenige den Bürgerstatus erwerben, also Ansehen genießen konnte, der nicht zur Verrichtung von schwerer Arbeit genötigt war. Nicht auszudenken, was passieren würde, wenn sich dies als das neue Selbstbewusstsein der Arbeitslosen durchsetzen würde, statt dass sie beschämt und gedemütigt ein möglichst unauffälliges Schattendasein führen, das Schattendasein der viel zu Vielen, die ihrer Vielheit wegen nicht nur nichts wert, sondern eine gesellschaftliche Zumutung sind. Sie wären dann zwar immer noch materiell schlecht gestellt, aber sie könnten selbstbewusst eine neue kritische Öffentlichkeit begründen, in der sie sogar den im Arbeitsprozess drangsalierten und vollständig erpressbaren Mitbürgerinnen und Mitbürgern die kritische Stimme der nicht mehr Erpressbaren leihen könnten. Darin könnten sie übrigens von den Alten unterstützt werden, die auch keine Arbeit mehr zu verlieren haben: eine große Koalition der nicht-erpressbaren Nichteinverstandenen.

Ich bin mir vollständig darüber im Klaren, dass ich mir mit diesem Szenario den Vorwurf des Sozialromantizismus einhandle. Also: Mit welchen lieb gewordenen Denkgewohnheiten müssten wir noch brechen, um dieser abwegigen Vorstellung zur Glaubwürdigkeit zu verhelfen? Wir müssten uns abgewöhnen, den Arbeitslosen das ihnen vom Noch-Sozialstaat gewährte karge Salär zu missgönnen, wir müssten aufhören, sie ihres Nichtstuns wegen scheel anzusehen. Tatsächlich hätten wir allen Grund, die Nicht-Arbeiter und Nicht-Arbeiterinnen fürstlich zu honorieren, denn sie schädigen die Gesellschaft bei weitem weniger als diejenigen, die ihre Arbeitskraft in den Dienst des großen ,Weltverbesserungsprojekts‘ der Moderne stellen, das in Wahrheit unsere Lebensgrundlagen vollständig zerstört. Aber ebenso tatsächlich gehört es natürlich zu den Spielregeln der modernen Gesellschaft, gerade denjenigen Macht, Autorität und Erfolg zuzuerkennen, die die Gesellschaft am nachhaltigsten schädigen, die den meisten das meiste vorzuenthalten vermögen. Wir müssten also die Verteilung von Schaden und Nutzen neu bedenken.

Der Gesellschaft und der Natur schaden in diesem Sinn nicht nur die 220 Reichsten der Welt, die sich den halben Globus unter den Nagel gerissen haben, nicht nur die Tausende von Wissenschaftlern, die ihren Lebenssinn und ihren Ruhm darin suchen, fieberhaft die militärischen Vernichtungspotenziale zu raffinieren, auch nicht nur die ,exzellenten Köpfe‘ in den Biotechnologien, die die Menschen und alles, was sonst kreucht und fleucht und wächst und gedeiht, aller Kreatürlichkeit berauben und zum Rohstoff ihrer hybriden Konstruktionsabsichten machen wollen, und auch nicht nur die neuen Zyniker im großen Agrobusiness, die eine Apokalypse des Hungers vorbereiten, indem sie das Saatgut so manipulieren, dass es nach einer Ernte tot, also nicht mehr keimfähig ist und Jahr für Jahr neu gekauft werden muss bei diesen Herren der Erde.

Wohlgemerkt, sie alle stehen in hohem gesellschaftlichen Ansehen.

Schädigend sind jedoch auch die Betreiber jener Professionen, die nach wie vor auch moralisch einen guten Ruf genießen, die Repräsentanten der Dienstleistungsberufe, die heilenden, lehrenden und helfenden Berufe eingeschlossen, die sich schmeicheln, nichts als segensreich zu sein in ihrem Wirken, während sie in Wahrheit eine entmündigende „Expertenherrschaft“ (Ivan Illich) aufrichten, die die Menschen der Verfügungsgewalt über ihre eigenen Belange vollständig beraubt. Ich muss mich nur in meiner eigenen Lebensgeschichte umsehen, um mich darüber zu entsetzen, wie viele von den Lebens- und Sterbensverrichtungen, die in meiner Kindheit noch ganz selbstverständlich in der Verfügung von jederfrau und jedermann waren – von der Reparatur der Dinge des täglichen Bedarfs über die Kurierung von Kinderkrankheiten bis zum Sterbebeistand –, heute in die Zuständigkeit von Experten und Expertinnen fallen, die sie als Dienstleistungsware feilbieten und jeden Versuch, davon keinen Gebrauch zu machen, nicht nur mit professioneller Strenge entmutigen, sondern sogar scharf sanktionieren.

Kurzum: Bei genauerem Hinsehen wird man feststellen, dass beinah alles, was heute berufsmäßig an Arbeit verrichtet wird, menschheitsschädigend ist, und zwar durch die Bank. Tatsächlich müssen nicht die Arbeitslosen sich die Sinnfrage stellen lassen, sondern die Arbeitenden, und sorgfältige Selbstprüfung würde sie mit einem eher bestürzenden Eindruck von der Sinnhaftigkeit ihres geschäftigen Tuns konfrontieren.

Kommt noch hinzu, dass die Arbeitslosen, ihrer bescheidenen Alimentierung wegen, auch die schlechteren Konsumierenden sind, und auch das macht sie, wiederum gegen den Richtungssinn der ökonomischen Propaganda, zu ,besseren, will sagen: verträglicheren Menschen‘, denn ohne Frage verhalten sich, aufs Große und Ganze und auf lange Sicht gesehen, diejenigen am freundlichsten gegenüber den Nachkommen, die am wenigsten von dem verbrauchen, was sich nicht von selbst erneuert.

Wäre aber so die Ehre der Arbeitslosen wiederhergestellt, dann bliebe immer noch zu fragen, wie sie ihre zunehmende materielle Misere verbessern könnten. Die einzige Antwort, die mir einleuchtet, lautet: ,Eigenarbeit‘. Eigenarbeit, das heißt, den Geldbedarf und die Geldabhängigkeit zu mindern durch eigenes Tun und durch die Schaffung unmittelbar nützlicher Gebrauchsgüter für den eigenen oder den nachbarschaftlichen Bedarf. Es wäre ein anderer Gebrauch als der ,Ein-Euro-Arbeitsdienst‘ von der überreichlich vorhandenen Zeit der Arbeitslosen zu machen. Die viel zu viele Zeit wird von den Arbeitslosen ja in der überwältigenden Mehrheit der Fälle gerade als peinigend und peinlich empfunden und die Pflicht, sie totzuschlagen, als noch belastender als die Maloche. Aber in ihr könnte eine reelle Chance stecken. Denn Arbeit an sich ist ja keineswegs knapp, im Gegenteil, sie liegt überall herum, man muss sie nur in Angriff nehmen. Knapp ist bloß die bezahlte Arbeit, könnte man meinen. Und so scheint es doch nahe liegend, die notwendigen Verrichtungen, in denen man sich als Lohnarbeiter durch andere vertreten ließ, die wiederum damit ihren Lebensunterhalt verdienten, wieder selbst in die Hand zu nehmen; und sei es auch aus Ungeübtheit zunächst ein wenig stümperhaft. Aber Vorsicht, so einfach ist das nicht.

In einem studentischen Projekt, das sich über zwei Semester erstreckte, sind wir intensiv der Frage nachgegangen, welche Möglichkeiten zur Eigentätigkeit und zur Minderung des Geldbedarfs es in den Bereichen Nahrung, Kleidung, Wohnung und Bildung in den modernen Gesellschaften gibt. Das deprimierende Ergebnis unserer Nachforschungen: Die konsumistische Gesellschaft hat die beiden in ihr favorisierten Existenzweisen, nämlich Warenproduktion und Warenkonsumtion, so totalisiert, dass beinah jede andere nicht von solcher Produktion und solchem Konsum beherrschte Tätigkeit erstorben ist. Nicht zuletzt dadurch, dass es schlichtweg kaum noch Eigenarbeit gibt, die ihren Einsatz lohnte. Jede Eigenarbeit wird durch Billigprodukte von vornherein ins Unrecht gesetzt oder entmutigt.

  • Meine Großmutter konnte noch aus zwei oder drei aufgeribbelten Pullovern einen neuen stricken, der nichts kostete. Der war keinesfalls modisch, aber warm, praktisch und haltbar. Heute kann man keinen gekauften Pullover mehr aufribbeln. Und die Wolle, um einen zu stricken, kostet das Dreifache von einem modischen Fertigteil aus chinesischer oder indischer Produktion.
  • Die Bauern führen Klage, dass sie Milch nicht mehr zu dem Preis produzieren können, den die Käufer/innen im Supermarkt dafür entrichten müssen.
  • Man kann so beschwerlich und asketisch reisen, wie man will, es wird immer noch teurer sein als ein Last-Minute-Schnäppchen vom Reiseanbieter auf Luxusniveau. Es ist nicht mehr einfach, mit seiner Hände und seines Hirnes Arbeit etwas herzustellen, das nichts oder weniger kostet als das, was im Supermarkt der Billigangebote zu haben ist.

Und noch einer anderen Gefahr ist die Eigenarbeit ausgesetzt, nämlich der, verwechselt zu werden mit der Schattenarbeit, die wir als Konsumierende in immer größerem Umfang zu leisten gezwungen werden. Jene unbezahlte Arbeit, die wir verrichten müssen, um wertdefiziente Waren oder Dienstleistungen so aufzubessern, dass wir sie brauchen oder verbrauchen können.

Ivan Illich, der diese Art von Arbeit präzise analysiert und identifiziert hat, schreibt: „Mit Schattenarbeit meine ich das neuzeitliche, unbezahlte Komplement zur Lohnarbeit (… ) jene Arbeit, die notwendig – oft lebensnotwendig ist um fertige Ware für den Haushalt überhaupt erst brauchbar zu machen. Diese Arbeit konnte es nicht geben, bevor aus dem Haushalt, dem Ort des Unterhalts, ein Heim wurde, das nun Ort des Konsums ist.“ [2] Schattenarbeit wird insbesondere im Dienstleistungssektor geleistet. Schularbeitenhilfe für die Kinder, Transport der Kinder zu den zahlreichen Nachmittagsbeschäftigungen, die Heimwerkerei von Ikea-Kunden, das Warten im Sprechzimmer des Arztes, der Gang zur Berufsberatung, die therapeutischen Maßnahmen, die notwendig werden, damit Kinder und Erwachsenen ihren institutionellen Alltag überhaupt überstehen können, die Wartung des Autos, die Bedienung des häuslichen Maschinenparks, die Mülltrennung usw. usf. All dies sind Tätigkeiten, die nicht mir selbst oder dem Mitmenschen gelten. Sie sind viel mehr ein Dienst an den Institutionen, die den Menschen die Zuständigkeit für ihre eigenen Angelegenheiten überhaupt erst entzogen haben. Durch Schattenarbeit richten sich die Konsumierenden/Produzierenden selbst und gegenseitig für ihre Institutionen- und Maschinentauglichkeit zu. Schattenarbeit macht immer mehr Teilprozesse von Dienstleistungen, die wir ja bezahlen müssen, zur unbezahlten Obliegenheit der Konsumierenden. Inzwischen müssen wir den Banken die Arbeit durch Tele-Banking erleichtern, der Bahn AG durch die Selbstbedienung im Internet, der Telekommunikation ihren Konkurrenzkampf durch penible Preisvergleiche ermöglichen. Immer mehr Zeit muss in diese Handlangerei für den Apparatus investiert werden, Zeit, die den Wohltaten, die wir einander gewähren können, abgeht.

Ernüchtert und illusionslos ist also festzustellen, dass die Eigenarbeit in der konsumistischen Gesellschaft nahezu chancenlos ist, und doch plädiere ich dafür, alle Anstrengungen der Phantasie und alle Kraft des Gedankens darauf zu richten, wie wir uns denn aus dem Würgegriff der großen Erpressung befreien können, die uns mit dem Arbeitsplatzargument jegliches Wohlverhalten und jegliche Unterwerfung abnötigen kann. Und Freiheitsspielräume können wir nur zurückgewinnen, wenn wir unseren Geldbedarf einschränken, auch wenn es so scheinen mag, als würden wir Unabhängigkeit durch mehr Geld gewinnen. Mehr Geld hält uns aber in der barbarischen Logik des „Faschismus des Geldes“ (George Steiner) gefangen.
Bildung für einen tätigen Weltumgang

Es ist gerade die Dummheit, verstanden als bösartige Verweigerung des Gedankens, die die Bedingung der Entstehung von Reichtum ist. Was allerdings bedauerlicherweise nicht den Umkehrschluss zulässt, die Armen seien notwendigerweise klug.

Zur Bildung gehört das Nachdenken, die Zeit für Um- und Abwege, das Bedenken der Folgen des Gedachten, die Kritik und die Kritik der Kritik, das Schlendern und Flanieren, die Umkehr und der Neuanfang, die verzweifelte Einsicht, der ungegängelte Dialog, die Ziellosigkeit der Gedankenwege, die Lust am folgenlosen Experimentieren, der beharrliche Zweifel und vieles mehr. Zur Bildung und zur Erkenntnis gehört es, dass man ihr im Kreis von Freunden und nicht im Umfeld von Konkurrenten nachgeht. Sobald ich meine Bildung mit dem scheelen Blick auf den beargwöhnten Nebenbuhler „vorantreibe“, habe ich die Möglichkeit, mich zu bilden, Einsicht und Erkenntnis zu gewinnen, bereits verspielt. Die Neugier, der Durst nach Erklärung, Einsicht und Sinn weichen dem eisernen Willen zu siegen, Vorteil zu ergattern und Position zu gewinnen. Folglich: Bildung und kapitalistische ,Vernunft‘ schließen einander kategorisch aus.

Die Konkurrenz spielt Nullsummenspiele. Der Erfolg des Einen ist die Niederlage der Andern, mehr noch, je mehr Niederlagen ich anderen zufüge, desto besser stehe ich da. Mein Erfolg bemisst sich im täglichen Wirtschaftskampf gerade nicht nach der Qualität der erzeugten Produkte, sondern nach der Zahl der aus dem Felde geschlagenen Konkurrenten. Je härter die Konkurrenz, desto mehr werden der Notwendigkeit, auf diesem Schlachtfeld zu siegen, alle Ziele, alle Inhalte, und alles Gemeinwohl geopfert. Eine Vergleichgültigung unvorstellbaren Ausmaßes findet statt. Es kommt nicht mehr darauf an, was ich mache, sondern lediglich darauf, was ich von mir hermache. Unter dem Konkurrenzdruck wird Imagepflege zum ersten Erfordernis, weshalb schon jetzt viele Unternehmen mehr Geld in die Werbung und Akzeptanzforschung stecken als in die eigentliche Produktion. Aber nicht nur Unternehmen, auch Politiker und Kirchenführer, Künstler, Entertainer und Wissenschaftler strampeln sich ab in diesem Metier, um in die ,Bestsellerlisten‘ zu gelangen, sich besser zu verkaufen als andere. Der Konkurrenzkampf kürt nicht die Besten und das Beste, sondern die Raffiniertesten und Skrupellosesten, die die Verführungs- und Verdummungskünste am virtuosesten beherrschen. Und er befördert nicht das beste Produkt, sondern dasjenige, dem mit Hilfe raffiniertester Werbestrategien der Nimbus, dass es beneidenswert mache, verpasst werden konnte.

Wie aber ist es möglich, dass die ökonomische Unvernunft sich so unangefochten als Vernunft behaupten kann? Wie ist es möglich, dass Wachstum, Innovation, Arbeit und Konkurrenz sich in der opinio communis so unbestritten als das Rettende, als der Königsweg in eine lebenswerte Zukunft festsetzen konnten? Wie kommt es zu dieser gespenstischen Dynamik, die mit dem Gutsein und Gutwerden der Welt und ihrer Bewohner gar nichts mehr zu tun hat? Die Antwort auf diese Frage kann kurz ausfallen. Sie braucht nur vier Buchstaben: GELD. Die Unterstellung, es könne alles, was von dieser – und jener – Welt ist, mit einem Geldwert belegt werden, macht alles miteinander vergleichbar, gegeneinander austauschbar, durcheinander ersetzbar, in seiner Verwertbarkeit taxierbar und in seinem Daseinsrecht bestimmbar. Der Geldwert vernichtet alle Singularitäten, alles Eigenwillige, Eigenständige und Einzigartige und erklärt die Beliebigkeit zum Prinzip.

Aber diese Geldwerte, die allem und jedem angeheftet werden, sind nicht real, sie haben keine Wirklichkeit, sie sind eine reine Fiktion, aber dennoch wirksam, sie treiben eine leere Dynamik an; sie legen sich wie ein Schimmelbezug auf die Welt der realen Dinge und Wesen. Sie begründen eine von der Wirklichkeit losgelöste Parallelwelt, in der die Logik des Geldes herrscht. In dieser Logik ist das ökonomische Kalkül ,vernünftig‘. Geld ist heute der wichtigste Indikator für das, was gilt. Aber der Geldwert ist nichts, was den Dingen oder den Wesen oder den Phänomenen oder Begebenheiten zu eigen ist. Geldwerte sind das Resultat einer Veranschlagung – „Was kost‘ die Welt? “ – und von Simulation, eine Gespensterwelt eben. Aber trotz oder gerade wegen ihrer Leere verfügen sie über die Macht, die Wirklichkeit in sich einzusaugen und sich selbst als äußerst wirkmächtig zu erweisen. Es bedarf aller Anstrengung des widerborstigen Gedankens, um sich von dieser Logik mit ihren tödlichen Folgen nicht ganz und gar irre machen zu lassen.

Nur in der Logik des Geldes konnte die Arbeit zu dem werden, was sie heute – noch – ist, zur Ware. Allerdings stellen wir jetzt fest, dass sie noch weiter herunterkommen kann. Ihre Warenförmigkeit ist noch nicht das Endstadium ihrer Verunstaltung: Der Techniker, der meine Telefonanlage reparierte, ist schon nicht mehr nur ein Arbeitnehmer, der seine Arbeitskraft einem Unternehmer gegen einen schäbigen Gegenwert verkauft. Er gehört bereits dem neuen Typus des „Arbeitskraft-Unternehmers“ an, und der muss viel mehr als seine Arbeitskraft verkaufen, nämlich sich selbst mit Haut und Haar inklusive seiner Familie und allem, was sein ist. Im Gegenzug darf er sich schmeicheln zur Unternehmerkaste zu gehören. Er ist Unternehmer seiner selbst. Ihm wird Autonomie versprochen, er kann und soll sein Arbeitsschicksal ganz in die eigene Hand nehmen; er sei sein eigener Herr, wird ihm zugesichert, niemand werde ihm dreinreden. Nur zwei Vorgaben stehen eisern fest: das Ziel, das ihm gesetzt ist, und der Zeitpunkt, zu dem das makellose Resultat seiner unternehmerischen Bemühungen vorzuliegen hat. „Wie Sie das machen, interessiert uns nicht.“ Und so wird ihm die volle Verantwortung angedreht für die Markttauglichkeit seiner Offerte. Er muss sich auf dem Laufenden halten, sein Angebot den Erfordernissen des Marktes mit seismographischem Spürsinn anpassen, er muss sein eigener Zeitmanager sein und seine Gesundheit stabil halten, er muss seine vollkommene Mobilität gewährleisten und seine Familie bei Laune halten, er muss sein ganzes Leben in den Dienst der pünktlich zu erledigenden Aufgabe stellen, mit seinen Ersparnissen die Zeiten schlechter Auftragslage überbrücken und für sein Alter vorsorgen. Wer dies Metier perfekt beherrscht, kann sogar mit ansehnlicher Entlohnung rechnen. „Viele genießen zunächst die (…) Rolle des high performer, vor allem in jungen Jahren macht die Probe auf die eigene Belastbarkeit noch Spaß. Auch wer allmählich ahnt, dass das Tempo der ersten Berufsjahre nicht durchzuhalten ist, mutet sich und den nahe stehenden Menschen den Verzicht auf freie Zeit in der Hoffnung zu, irgendwann werde die Balance gelingen. Gefangen im Selbstbild des Könners fühlt man sich lange als ,Herr der Lage‘, verdrängt Zeitdruck und Stress wie eine peinliche Krankheit, aber schon in mittleren Jahren wächst die Angst …“ [3]

Das alles ist wahrlich Grund genug, in Lafargues Verdikt über die Arbeit einzustimmen. Aber die Konsequenz, die er daraus zieht, nämlich ein „Recht auf Faulheit“ zu proklamieren, will ich nicht mitvollziehen. Faulheit können wir uns ja heute nur als das Komplement zur Arbeit vorstellen, als ein vollkommen erschöpftes Nichtstun. Aber daraus entsprießen dem Menschen keine Kräfte, Kräfte wachsen ihm vielmehr aus dem Tun, aus dem Tätigsein zu. Schon Goethe wusste, dass die reife Persönlichkeit aus dem „tätigen Weltumgang“ erwächst, und George Steiner ahnt, dass uns ohne diesen tätigen Weltumgang buchstäblich das Lachen vergeht, denn der Augenblick des großen Lachens entspringe aus überstandener Mühsal und aus dem Gelingen einer selbstgesetzten Aufgabe zum eigenen Nutzen und zum Wohle anderer.

Eine längere Fassung dieses Beitrags befindet sich in: Losarbeiten – Arbeitslos?, hg. von Andreas Exner, Judith Sauer, Pia Lichtblau, Nora Hangel, Veronika Schweiger, Stefan Schneider, in Kooperation mit Attac, (Unrast-Verlag, Münster 2005).

[1Lafargue, Paul (1980; Original 1891): Das Recht auf Faulheit, Edition Sonne und Faulheit, S. 21.

[2Illich, Ivan (1982): Schattenarbeit. In: Ders.: Vom Recht auf Gemeinheit, Rowohlt Verlag, S. 76.

[3Kadritzke, Ulf (Juli 2005): Übernächtigt in Seattle. Die neue Arbeit enteignet die Zeit, in: LE MONDE diplomatique, S. 9.

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