Heft 8/2002 — 1/2003
März
2003

Wer Wurzeln sucht, geht in den Wald

Eine Antwort auf Thomas Schmidingers kritische Bemerkungen

Es wäre ganz und gar absurd zu leugnen, daß der Ursprungsort des Antisemitismus das Christentum ist. Und bei diesem Ursprung spielt gerade die unmittelbare, aber perhorreszierte Nähe zum Judentum eine entscheidende Rolle. Dennoch konstituiert sich auch der Islam – wie immer vermittelt – unter den Voraussetzungen des Judentums (Gemeinsamkeit der Mythen des Alten Testaments, vieler Gebote etc.) und damit zugleich in der Gegnerschaft zum Judentum, wobei wie bei den Christen eine Anpassung an polytheistische Traditionen der jeweiligen Umgebung erfolgt. Vermittelt heißt: es gibt zwar nicht den Vorwurf des Gottesmordes als zentralen Bestandteil der Mythen, aber immerhin den des versuchten Mordes am Propheten Jesus sowie mehrere Bezichtigungen der Wortverdrehung, der Lügenhaftigkeit (z.B. Sure 4 48-49; Sure 2 70-73; ich stütze mich auf die Übersetzung von Lazarus Goldschmidt, Berlin 1920; Neuaufl. Wiesbaden 1995); es gibt zwar im Ursprung keine innere Abstoßung vom Judentum, die wie die christliche auf eine frühe Abspaltung gefolgt wäre, aber eine äußere in der Auseinandersetzung mit den jüdischen Stämmen, die sich offenbar nicht bekehren lassen wollten.

Im Koran taucht dann bereits der Vorwurf auf, manche Juden würden sich nur zum Schein bekehren, und vielleicht nicht zufällig in diesem Zusammenhang die physische Assoziation, daß einige Juden von Gott in Affen und Schweine verwandelt worden seien (Sure 5 64-69). Diese frühe Abwehr des Judentums, wie sie in den Offenbarungen Mohammeds festgehalten wird, verhinderte nicht Perioden einer jüdisch-islamischen Symbiose, die spätere Übernahme des europäischen Antisemitismus ist durch sie jedoch erleichtert worden.

Der Islam, der den Kreuzestod Jesu zurücknahm, konnte dennoch auf das Selbstopfer nicht verzichten – und das hängt mit seinem Bekehrungsdrang zusammen, der großräumig mit dem Christentum konkurriert. (Hier müßten natürlich die unterschiedlichen gesellschaftlichen Bedingungen solcher Konkurrenz erläutert werden – die frühe Staaten- und Kapitalbildung betreffend. Es erwies sich der Islam als die Religion einer vom Handelskapital dominierten gesellschaftlichen Struktur; der Durchbruch zum industriellen Kapital und zum Nationalstaat unterblieb; die schlagartig entstandene Bedeutung des Handelsguts Erdöl sorgte aber schließlich für ungeahnte Finanzierungsmöglichkeiten.)

G’ihad – wie Thomas Schmidinger – mit „Verteidigungskrieg“ zu übersetzen kann nur für ganz bestimmte historische Konstellationen sinnvoll sein, kaum für die großen Expansionsbestrebungen und den immer wieder ausgeübten Druck zur Konversion. Die buchstäbliche Bedeutung ins heutige Deutsch zu übertragen, wird sinnlos, wenn das Verhältnis der heiligen Worte zu den gesellschaftlichen Taten nicht zur Sprache kommt. Daß der Märtyrerkult dem sunnitischen Islam – im Unterschied zum schiitischen – „fast völlig fremd“ gewesen sei, wie Schmidinger schreibt, erinnert daran, daß es auch im Christentum große Unterschiede gibt, was die Bedeutung dieses Kults betrifft (Protestantismus – Katholizismus etc.). Die Frage des Selbstopfers läßt sich auch nicht auf den Kult einzelner Märtyrer reduzieren, denn sie beinhaltet zuallererst ein bestimmtes Verhältnis zu Gott und Jenseits und eine bestimmte Haltung zum Andersgläubigen bzw. „Ungläubigen“. Glaubensinhalte wie die Verheißung, durch den Tod sofort ins Paradies zu gelangen, oder Glaubensziele, wie die Ausbreitung der umma über die Welt, finden sich nun einmal auch im sunnitischen Islam.

Es kann aber bei solchen Überlegungen zur Geschichte des Islam nicht um die „Wurzeln“ der Selbstmordattentate gehen, da stimme ich Thomas Schmidinger ganz zu. Diese Anknüpfung an den Vernichtungswahn des Nationalsozialismus läßt sich nur im Zusammenhang des Ganzen analysieren und ist nicht einfach auf eine bestimmte historische Tradition zurückzuführen. (Insofern betrachte ich meine Formulierung, daß der G’ihad „das Selbstopfer als Selbstmordattentat immer schon einschloß“, tatsächlich als mißverständlich.) Es bleibt jedoch die Frage, auf welche Weise bestimmte Traditionen Vorschub leisten, den europäischen Antisemitismus sich anzueignen.

Problematisch erscheint mir hier die Differenzierung, die Thomas Schmidinger einführt, wenn er von der Möglichkeit der Konversion spricht, die für Juden angesichts einer Organisation wie der Hamas bestehe. Für die fundamentale Zweideutigkeit des „religiösen Antisemitismus“, hinter dem der auf Physis und „Rasse“ zielende lauert, hätte doch allein die spanische Inquisition genügend Anschauungsmaterial geliefert. Und die Möglichkeit als „Ehrenarier“ zu überleben, gab es in einigen ganz wenigen Fällen auch im Dritten Reich. Problematisch erscheint mir die Differenzierung, weil sie eben nicht die Differenz in der veränderten gesellschaftlichen und politischen Lage des Judentums reflektiert. Eine Rassentheorie ist für den Antisemiten in einer bestimmten Konstellation vonnöten - etwa, wenn er sich einer zur Assimilierung bereiten, größeren Masse von Jüdinnen und Juden unmittelbar gegenüberfindet, wie in Deutschland und in der Habsburgermonarchie im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Sie ist aber nicht vonnöten angesichts eines jüdischen Staats. Denn hier kann der Antisemit an diesem Staat selbst bereits die nötigen Kriterien und Anhaltspunkte gewinnen, um die Juden zu identifizieren. Und zugleich zeigen die Anschläge auf Einrichtungen jüdischer Gemeinschaften weltweit, daß diese Identifizierung ebenso die Juden betrifft, die gar keine Israelis sind! Auch ohne Rassentheorie und unmittelbar rassistisches Vokabular handelt es sich durchaus um einen rassistischen Begriff vom Judentum. Jüdische Religion und jüdischer Staat dienen ihm als Hinweise auf Name und Adresse jeder einzelnen Jüdin, jedes einzelnen Juden, auf deren physische Existenz er es abgesehen hat.

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