Streifzüge, Heft 69
Mai
2017

Zum Grundsatzprogramm der AfD*

2.100 Mitglieder der Aktion für Deutschland (AfD) hatten sich Ende April/Anfang Mai 2016 für ein Wochenende in der Stuttgarter Messehalle versammelt, um ihr erstes Grundsatzprogramm zu beschließen. Wir werden das Programm also nicht als Steinbruch für griffige Agitation verwenden, sondern vor allem dazu, den Charakter dieser Partei besser zu verstehen. Vierzehn Kapitel umfasst das Papier nach der Präambel. In der Präambel wird das Selbstbild gleich in den ersten drei Sätzen zusammenfasst: „Wir sind Liberale und Konservative. Wir sind freie Bürger unseres Landes. Wir sind überzeugte Demokraten.“

Der erste Satz bekräftigt die bereits beschriebene Herkunft des Projekts AfD aus dem Lager von FDP und CDU, der zweite definiert den Wirkungsraum und der dritte kann wohl auch als Schutzbehauptung gegen die Vorwürfe verstanden werden, die AfD sei eine verkappte Nachfolgeorganisation der NSDAP. Die AfD-Mitglieder haben sich entschieden, heißt es in dem Text weiter, „Deutschland (…) eine echte politische Alternative zu bieten“. Sie seien offen gegenüber der Welt, „wollen aber Deutsche sein und bleiben“.

Europa und Euro

Der zweite große Abschnitt des AfD-Programms befasst sich mit „Europa und Euro“. Die alte Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) wird gelobt, die „im westlichen Europa über Jahrzehnte (1957 bis 1993) zu Frieden und Prosperität beigetragen“ habe. Die AfD plädiert im Sinne einer Rückkehr zu dieser Konstruktion dafür, „das Subsidiaritätsprinzip konsequent beizubehalten und Kompetenzen an die Nationalstaaten zurückzugeben“. Das „Experiment Euro“ sei geordnet zu beenden – und zwar „unverzüglich“. Eine „Bundesregierung mit AfD-Beteiligung“ müsse die entsprechenden Vereinbarungen kündigen. Die „deutsche Haftung für ausländische Banken“ müsse beendet, die Bankenaufsicht „vollständig in nationale Hände“ zurückgegeben werden. „Als Partei der sozialen Marktwirtschaft will die AfD erreichen, dass in letzter Konsequenz Insolvenzen von Banken ohne Beteiligung des Steuerzahlers möglich sind“ – eine Forderung, die von Kräften, die unter dem Label „links“ versuchen, das kapitalistische System vor seiner eigenen Dynamik zu retten, bekanntlich ebenfalls erhoben wird.

Waffen und Polizei

Der dritte Abschnitt des Programms befasst sich mit der Inneren Sicherheit und der Justiz. Er enthält eine Sammlung von bekannten Forderungen rechter Parteien aller Schattierungen mit einer überraschenden Zugabe: der Thematisierung des Waffenrechts. „Die AfD“, heißt es dort, „widersetzt sich jeder Einschränkung von Bürgerrechten durch eine Verschärfung des Waffenrechts.“ Eine solche wäre ein „weiterer Schritt (…) in den umfassenden Überwachungs- und Bevormundungsstaat“.

Ansonsten: Ausbau des Polizeiapparats, Senkung der Strafmündigkeit auf zwölf Jahre, härtere Strafen für „Angriffe auf Amtspersonen“, „Opferschutz statt Täterschutz“ und „kein Datenschutz für Täter“. Soviel zum „Überwachungsstaat“. Bereits hier vermischen sich die Forderungen mit Überlegungen zur Abgrenzung zum Ausland: „Der erhebliche Anteil von Ausländern gerade im Bereich der Gewalt- und Drogenkriminalität begegnet derzeit nur halbherzigen ausländerrechtlichen Maßnahmen, insbesondere können sich ausländische Kriminelle sehr häufig auf Abschiebehindernisse berufen und sind auf diese Weise vor Abschiebung sicher.“ Und wenig später heißt es: „Die Mehrzahl der Täter im Bereich der organisierten Kriminalität sind Ausländer.“ Zur Absicherung der Außengrenzen soll ein flächendeckender deutscher Grenzschutz unter dem Dach der Bundespolizei errichtet, sollen betriebsbereite Grenzübergangsstellen installiert und soll nach österreichischem Vorbild auch die Bundeswehr zur Grenzsicherung herangezogen werden können.

Die AfD ist eine Partei der massiven Aufrüstung bewaffneter Staatskräfte im Inneren, der offenen Frontstellung dieser Kräfte gegen Ausländer/innen, der Förderung der Selbstbewaffnung von gewaltbereiten deutschen Bürgern und der Vorbereitung der militärischen Abschottung der Außengrenzen.

Mindestlohn und Familie

Der fünfte Abschnitt widmet sich der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik. Zwar finden sich dort auch noch einige der alten Glaubensbekenntnisse von Henkel und Lucke, aber unter der Überschrift „Mindestlohn beibehalten“ eben auch die schon in den dreißiger Jahren bewährte Verknüpfung von scheinbar sozialen mit nationalen Positionen: „Der gesetzliche Mindestlohn korrigiert (…) die Position der Niedriglohnempfänger als schwache Marktteilnehmer gegenüber den Interessen der Arbeitgeber als vergleichsweise starke Marktteilnehmer. Er schützt sie auch vor dem durch die derzeitige Massenmigration zu erwartenden Lohndruck.“

Vor allem aber wird in diesem Abschnitt ein deutlicher Akzent auf Forderungen gelegt, die die Wählerbasis in Richtung auf junge Familien erweitern könnten, zumal sie sich in dieser Klarheit in keinem anderen Programm größerer Parteien gegenwärtig finden: „Familien sind gegenüber Kinderlosen in dramatischer Weise finanziell benachteiligt. Familienarmut und eine anhaltend niedrige Geburtenrate sind die Folge. (…) Es ist Zeit, die Leistung der Eltern finanziell und ideell anzuerkennen.“ Für dieses Ziel werden eine Reihe plausibler Forderungen entwickelt, etwa die Berücksichtigung der Kinder- und Erziehungsleistung bei der Rente, die Aufwertung der Pflege durch Angehörige oder die Einführung eines „Familiensplittings“ analog dem heutigen Ehegattensplitting, nach dem „die Gesamtfamilie als Erwerbsgemeinschaft zu verstehen“ sei.

Systematisch gehören dieser Abschnitt und der folgende sechste zu „Familie und Kinder“ zusammen – hier wird der (illusorische) Ansatz, durch Förderung der bürgerlichen Kleinfamilie das Problem der demographischen Schrumpfung bewältigen zu können, konsequent fortgeführt. Das beginnt mit einem „Bekenntnis zur traditionellen Familie als Leitbild“ und weiteren Forderungen, deren Umsetzung die Geburtenrate unter „deutschstämmigen“ Frauen über die Reproduktionsrate von 2,1 Kindern pro Frau heben soll – etwa der nach „Bereitstellung zinsloser Darlehen für Eltern zum Erwerb von Wohneigentum, deren Schuldsumme sich mit jedem neugeborenen Kind vermindert“.

Das zuweilen vorgebrachte Argument, das würde nur den Besserverdienenden nützen, weil nur sie sich überhaupt Wohneigentum leisten könnten, führt in die Irre: Eine Familie, die für 200.000 Euro ein Haus kauft und zu 100 Prozent finanziert, läge mit einem zinslosen Annuitätendarlehen, das sich pro Kind etwa um 30.000 Euro reduziert, schnell unter der Schwelle jeder Mietzahlung für eine Familie mit drei oder vier Kindern. Auch die Forderung nach dem Erlassen von BaföG-Darlehen für Eltern wird sich nicht durch Rhetorik erledigen lassen. Ein bisschen neben der Beschwörung des traditionellen Familienbildes liegt die Forderung des Programms, auch Alleinerziehende zu unterstützen, und eine pfiffig-zynische Variante überkommener Demagogie ist die Überschrift des Schlussabschnitts dieses Kapitels: „Willkommenskultur für Neu- und Ungeborene“, in der – hinsichtlich etwa der Wiedereinsetzung des alten Paragraphen 218 StGB – ohne weitere Konkretisierung die „ca. 100.000 Schwangerschaftsabbrüche“ pro Jahr angeprangert werden.

Deutsch und christlich

„Die deutsche Sprache“ ist das „Zentrum unserer Identität“. Die in Kapitel 7 intensiv beschworene „deutsche Leitkultur“ speise sich, so wird erläutert, aus drei Quellen: „erstens der religiösen Überlieferung des Christentums, zweitens der wissenschaftlich-humanistischen Tradition, deren antike Wurzeln in Renaissance und Aufklärung erneuert wurden, und drittens dem römischen Recht, auf dem unser Rechtsstaat fußt“.

Die erste Quelle liegt bekanntlich in einer Region der Welt, aus der gegenwärtig die direkten Nachfahren deren, die die deutsche Leitkultur angeblich mitbegründeten, fliehen und im Mittelmeer mit dem Segen der AfD-Funktionäre zu Tausenden ertrinken. Wenn die Dienstwagen der AfD künftig der in Runen geschriebene Spruch „Odin statt Jesus“ schmücken würde, wäre das wenigstens ehrlich. Die antiken Wurzeln, die zweite Leitkultur-Quelle, liegen bekanntlich auch nicht in den nord-, sondern in den südeuropäischen Regionen, und das römische Recht, Quelle Nummer drei, wäre nie nach Deutschland gelangt, wären damals die Grenzen schon so hermetisch abgeriegelt worden, wie es die AfD heute fordert.

In diesem Kapitel finden sich auch jene Passagen zum Islam, die in der medialen Öffentlichkeit soviel Aufmerksamkeit erregt und auf dem AfD-Programmparteitag auch eine rund 90minütige Diskussion ausgelöst haben – diese Debatte hat dazu geführt, dass die schließlich beschlossenen Passagen eine noch schärfere Abgrenzung zum Islam enthalten, als das im Antrag der Programmkommission vorgesehen war.

Die Aussagen zum Islam gipfeln bekanntlich in dem Satz „Der Islam gehört nicht zu Deutschland“, der einen offenen Widerspruch zum gegenteiligen Befund des früheren Bundespräsidenten Christian Wulff (CDU) markieren soll. Die AfD räumt zwar ein: „Viele Muslime leben rechtstreu sowie integriert und sind akzeptierte und geschätzte Mitglieder unserer Gesellschaft“, und insofern ist der Vorwurf, diese Partei richte sich gegen alle Muslime, aus dem Programm selbst nicht ableitbar. Aber die Härte der geforderten Maßnahmen lässt an der Abwehr aller Versuche, dieser Religion zu erlauben, was einige hundert Jahre vorher dem damals nach Germanien importierten Christentum erlaubt war, nämlich die angestammten germanischen Götter zu verdrängen, keinen Zweifel: „Die AfD verlangt (…) zu verhindern, dass sich islamische Parallelgesellschaften mit Scharia-Richtern bilden und zunehmend abschotten. (…) Die Finanzierung des Baus und Betriebs von Moscheen durch islamische Staaten oder ausländische Geldgeber bzw. ihre Mittelsmänner soll unterbunden werden. (…) Imame, die in Deutschland predigen wollen, bedürfen der staatlichen Zulassung. Sie müssen sich vorbehaltlos zu unserer Verfassungsordnung bekennen und abgesehen von der Koran-Rezitation in deutscher Sprache predigen. (…) Die islamtheologischen Lehrstühle an deutschen Universitäten sind abzuschaffen und die Stellen der bekenntnisneutralen Islamwissenschaft zu übertragen. (…) Die AfD fordert ein allgemeines Verbot der Vollverschleierung in der Öffentlichkeit und im öffentlichen Raum.“

Einwanderung und Paradigma

Das Kapitel 9 ist das umfangreichste. Es ist auch das bis dato erfolgreichste, da die AfD-Erfolge namentlich der letzten Wahlen sich im wesentlichen den dort behandelten Themen „Einwanderung, Integration und Asyl“ verdanken. Der hier geforderte „Paradigmenwechsel“ wurde von den Medien mittlerweile so ausführlich referiert, dass wir die Stichworte nur kurz nennen müssen: klare Unterscheidung zwischen politischen Flüchtlingen und „irregulären Migranten“, die „keinen Flüchtlingsschutz beanspruchen“ können, Abwehr der „rasanten, unaufhaltsamen Besiedlung Europas, insbesondere Deutschlands, durch Menschen aus anderen Kulturen und Weltteilen“ sowie der „Gefahr (…) eines schleichenden Erlöschens der europäischen Kulturen“. Gefordert werden „strenge Personenkontrollen“ an „allen deutschen Grenzübergängen“, konsequente Rückführungen, Schutz- und Asylzentren in Nordafrika und anderen „sicheren Staaten“ und eine entsprechende Anpassung der Genfer Konvention von 1951.

Die Partei ist – wie Frauke Petry vor dem Parteitag in einem Interview im Spiegel betonte – nicht „gegen Einwanderung“, sondern für eine „maßvolle legale Einwanderung nach qualitativen Kriterien“, wie sie zum Beispiel in Kanada und Australien schon länger praktiziert werde. (Spiegel 13/2016, S. 28 ff.) Der vielleicht erstaunlichste Abschnitt dieses Kapitels, ja des gesamten Programms, ist der folgende: „Die AfD bekennt sich dazu, ökonomische Fluchtursachen zu vermeiden, auch wenn dies für die westliche Wirtschaft zunächst Nachteile mit sich bringen könnte. Dazu gehört beispielsweise ein Exportstopp für hochsubventionierte landwirtschaftliche Erzeugnisse nach Afrika, die dort die lokalen Märkte ruinieren und den Menschen ihre Lebensgrundlagen nehmen. Dasselbe gilt für den Export von Waffen, Altkleidern, Giftmüll und anderen westlichen Abfallprodukten sowie für die EU-Fischerei vor den afrikanischen Küsten.“ Hier wird eine Ahnung der tatsächlichen Zusammenhänge sichtbar, was übrigens vergleichbar, wenn auch ideologisch blockiert, für die Feststellung eines Aufschwungs des Islams gilt.

Das Auf- und Vorankommen der AfD und vergleichbarer Formationen auch in anderen entwickelten kapitalistischen Ländern zur jetzigen Zeit ist überhaupt nur als Reaktion auf Entwicklungen verstehbar, die aus den von diesen kapitalistischen Zentren ausgehenden Zerstörungen der Peripherie des seit 1989 zum Weltsystem gewordenen Kapitalismus hervorgehen. Jahrhundertealte Strukturen sind durch die Gewalt-Zwillinge „Kapitalistischer Markt“ und „Kapitalistischer Staat“ in den Jahrzehnten seit dem Siegeszug des Kapitalismus von Europa und den USA aus in der ganzen Welt zerschreddert worden. Millionen Menschen sind vor allem in den letzten beiden Jahrzehnten durch Kriege und Wirtschaftskrisen ihrer Lebensmöglichkeiten beraubt und vertrieben worden. In den zerfallenden Staaten haben sich Warlord-Strukturen gebildet, die es ermöglichen, dass eine der durch Aufklärung und Säkularisierung schon zurückgedrängten monotheistischen, alle anderen Religionen per se also ausschließenden Glaubenslehren einen neuen, aggressiven Aufschwung genommen hat. Flankiert von dieser zerfallsgetrieben aggressiven Religion haben sich die der Not Entfliehenden auf den Weg in die für ihre Not verantwortlichen Zentren gemacht.

Die AfD ist die Politik gewordene, blind um sich schlagende Abwehr dieser im Zentrum des Kapitalismus selbst gezeugten „Bedrohung“. Immerhin: Eine Ahnung dieses Sachverhalts hat sich bis in das Programm dieser um sich Schlagenden vorgerobbt. Von praktischer Bedeutung wird sie nicht sein – obwohl die Partei völlig zu Recht fürchtet, dass „wir erst am Anfang weltweiter, bislang unvorstellbarer Wanderungsbewegungen in Richtung der wohlhabenden europäischen Staaten“ stehen. Sollte sich das bewahrheiten, wird die Antwort darauf nicht mehr Einsicht in die Zusammenhänge, sondern mehr Militär sein. Die AfD ist die Stimme der energischen Abwehr der durch den Kapitalismus selbst ausgelösten Wanderungsbewegung aus der Peripherie in die kapitalistischen Zentren des (relativen) Wohlstands.

Wettbewerb-Steuern-Klima

Die letzten Abschnitte beginnen mit dem wohl noch aus der Gründerzeit stammenden Glaubensbekenntnis: „Freier Wettbewerb sichert unseren Wohlstand.“ Alle Kernsätze des Monetarismus à la Friedman, Hayek und anderen finden hier ihren Platz: „Je mehr Wettbewerb und je geringer die Staatsquote, desto besser für alle. Denn Wettbewerb schafft die Freiheit, sich zu entfalten und selbst zu bestimmen, privates Eigentum an Gütern und Produktionsmitteln (!, M.S.) erwerben zu können, (…) ertragbringende Chancen zu nutzen, aber auch ein mögliches Scheitern selbst zu verantworten.“ „Jede Form von staatlicher Planwirtschaft führt früher oder später zu Fehlallokationen und Korruption.“ An diesen Prinzipien soll nicht nur Deutschland, sondern die ganze Welt genesen: „Den Außenhandel will die AfD ebenso marktwirtschaftlich ausrichten wie die inländische Wirtschaftsordnung.“

Die diesem Satz folgenden Seiten sind allerdings – mit einigen Unterbrechungen – davon geprägt, in einer Ansammlung politisch-praktischer Forderungen die hehren „zentralen Prinzipien (…) Eigentum, Eigenverantwortlichkeit und freie Preisbildung“ wieder einzuschränken. „Handelsabkommen“ nämlich „sollen deutsche Sicherheitsstandards in keinem Fall unterlaufen“, TTIP, Tisa und Ceta werden abgelehnt, weil sie die „demokratische Legitimation“ des Bundestags einschränken würden, und Privatisierungen sollen nur erlaubt sein, wenn sie durch Bürgerentscheide „auf der jeweiligen staatlichen Ebene“ entschieden würden. Während im Abschnitt 3.6 noch Opferschutz vor Datenschutz rangiert, heißt es nun in 10.10, „dem Datenschutz“ sei „ein hoher Stellenwert einzuräumen“. Lebensmittel sollten besser gekennzeichnet werden, die künstliche Verkürzung der Lebensdauer von Produkten sollte durch wiederholte Tests unterbunden, Textilien und Kinderspielzeug sollten auf Schadstoffe überprüft werden – das Vertrauen in die Kräfte des Marktes ist selbst bei den Gralshütern des freien Wettbewerbs offenbar beschränkt.

Ähnlich widersprüchlich sind die Aussagen zum Steuerrecht. Für den in Abschnitt 10 beschworenen „schlanken, aber starken Staat“ soll in der Folge der sogenannten Schuldenbremse, also des Verbots, zur Staatsfinanzierung Nettokredite neu aufzunehmen, auch eine „Steuer- und Abgabenbremse im Grundgesetz“ verankert werden, „um die maximale Summe der Belastung auf einen bestimmten Prozentsatz im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt festzuschreiben“. Eine Zahl wird nicht genannt – aber die „Steuern und Abgaben sollen in Zukunft nicht mehr beliebig erhöht werden“. Eher schon werden Steuersenkungen gefordert: durch einen höheren Grundfreibetrag, durch Indexierung des Stufentarifs zur Vermeidung der sogenannten „kalten Progression“ und – wie oben schon erwähnt – durch die Einführung eines Familiensplittings, durch das „die Summe der erzielten Einkünfte aller Familienmitglieder durch die Zahl der Familienmitglieder geteilt wird“. Das übrigens ist für Kinderreiche, denen der politische Kontext einer solchen Forderung ziemlich egal ist (wenn sie ihm nicht sowieso beipflichten), sicherlich ein attraktiver Programmpunkt. Vermögens- und Erbschaftssteuer sollen abgeschafft werden, die vorhandenen Schulden sollen nach und nach getilgt werden. Diese Ansammlung von Steuernachlässen einerseits und die weiter oben beschriebenen Forderungen nach deutlich mehr Polizei, einer deutlich aufgerüsteten Bundeswehr und weitere kostenintensive Pläne andererseits passen offensichtlich nicht zusammen – durchgerechnet ist das Programm jedenfalls nicht.

Der Abschnitt zur Energiepolitik beginnt mit der Forderung, in der Klimapolitik den „Irrweg zu beenden“, der so beschrieben wird: „Das Klima wandelt sich, solange die Erde existiert. (…) Kohlendioxid (CO2) ist kein Schadstoff, sondern ein unverzichtbarer Bestandteil des Lebens. (…) Seit die Erde eine Atmosphäre hat, gibt es Kalt- und Warmzeiten. Wir leben heute in einer Warmzeit mit Temperaturen ähnlich der mittelalterlichen und der römischen Warmzeit.“ Diesen Annahmen entsprechend werden alle politischen Maßnahmen zur „zwangsweisen Senkung der CO2-Emissionen“, alle Vorschriften zur Dämmung von Wohngebäuden, die nur die Belastung für kleine Mieter erhöhen und Luxussanierungen Vorschub leisten würden, sowie die Förderung der Windkraft und anderer regenerativer Energieerzeugungsarten abgelehnt.

Zwei weitere Punkte stecken im letzten Kapitel, die in ihrem Einfluss auf potentielle Wähler/innen nicht unterschätzt werden sollten. Unter Verwendung des Slogans „Freie Fahrt für freie Bürger“ wendet sich die Partei gegen „Behinderungen“ durch Geschwindigkeitsbeschränkungen, die von Kommunen „vorrangig“ als „zusätzliche Einnahmequelle“ genutzt würden. Und schließlich wird „eine Perspektive für den ländlichen Raum“ angemahnt – unter anderem durch Dezentralisierung von Entscheidungsstrukturen, „Wiederbelebung“ des „Selbstverwaltungs- und Selbstbestimmungsrechts der Kommunen“ (außer in Sachen Geschwindigkeitsbegrenzungen, versteht sich), Beendigung der „Benachteiligung ländlicher Gemeinden bei der Finanzverwaltung“, mobile Gesundheits-, Alten- und Jugendbetreuung.

Diese Abschnitte lassen sich als eine in hohem Maße in sich widersprüchliche, aber gezielt die Gefühlslage einzelner, in der Summe beträchtlicher Bevölkerungssegmente aufgreifende Sammlung konkreter Zustandsbeschreibungen und Forderungen zu unterschiedlichsten Politikbereichen zusammenfassen.

Wie am Anfang der Betrachtung des AfD-Programms kommen wir an ihrem Schluss zur dröhnenden Stille dieses Programms. In ihm finden wir zwar die Formulierung der Sorge darüber, dass Lebensversicherungssparern durch Negativzinsen eine „allmähliche Enteignung“ drohe, aber an keiner Stelle Hinweise auf die wesentliche Form der Alterssicherung, die staatlich organisierte Rente. Auch wer im Abschnitt zu „Arbeitsmarkt und Sozialpolitik“ nach Aussagen zur Gesundheits- oder Pflegeversicherung sucht, wird nicht fündig werden. Dies mag der Programmtendenz geschuldet sein, der Staat solle sich auf seine vier Kernbereiche zurückziehen, zu denen eben die Sicherung im Alter nicht gehört. Dann wäre die unausgesprochene Hauptaussage dieses Programms: Jede/r ist sich selbst der oder die nächste, und der Staat hat damit nichts zu tun.

Zusammenfassung

  • Die AfD ist eine auf Regierungsbeteiligung innerhalb der bestehenden Strukturen drängende Partei.
  • Die AfD lenkt die wachsende Verärgerung über die bestehenden Verhältnisse mit unbestreitbaren Belegen statt auf die kapitalistischen Verhältnisse selbst auf die diesem System verpflichtete politische Kaste, deren Teil zu werden sie selbst so energisch anstrebt.
  • Die AfD will ohne Infragestellung kapitalistischer Bewegungsgesetze die Wirkung dieser Gesetze – so wie vermeintlich in den fünfziger und sechziger Jahre geschehen – im Raum der bürgerlichen Nationalstaaten einhegen. Das wäre das Ende der EU und des Euro.
  • Die AfD ist eine Partei der massiven Aufrüstung bewaffneter Staatskräfte im Inneren, der offenen Frontstellung dieser Kräfte gegen Ausländer, der Förderung der Selbstbewaffnung von gewaltbereiten deutschen Bürgern und der Vorbereitung der militärischen Abschottung der Außengrenzen.
  • Das Programm enthält eine Reihe von massenwirksamen und je für sich nicht einfach vom Tisch zu wischenden sozialpolitischen Forderungen wie die nach Festhalten am Mindestlohn und gezielter Familienförderung für Kinderreiche.
  • Die AfD markiert die positiv gewertete, gemeinschaftsstiftende deutsche Identität vor allem in Abgrenzung gegen den diese Identität angeblich bedrohenden Islam.
  • Die AfD ist eine Partei der Bildungsselektion und der Rückkehr zu den am Ende des 19. Jahrhunderts in den kapitalistischen Staaten entstandenen Schulsystemen mitsamt ihren hergebrachten Forschungsschwerpunkten und Abschlüssen.
  • Die AfD ist die Stimme der energischen Abwehr der durch den Kapitalismus selbst ausgelösten Wanderungsbewegung aus der Peripherie in die kapitalistischen Zentren des (relativen) Wohlstands.
  • Die AfD formuliert in ihrer Programmatik eine in hohem Maße in sich widersprüchliche, aber gezielt die Gefühlslage einzelner, in der Summe beträchtlicher Bevölkerungssegmente aufgreifende Sammlung konkreter Zustandsbeschreibungen und Forderungen zu unterschiedlichsten Politikbereichen.

* Der Artikel ist ein redaktionell gekürzter Auszug aus dem soeben im Konkret Literatur Verlag erschienen Buch des Autors: „Falsche Feinde. Was tun gegen die AfD?“


Alle Zitate, soweit nicht anders angegeben, aus dem „Programm für Deutschland“, abgerufen auf der Homepage der AfD am 2. Juni 2016

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