FORVM, No. 344-346
Oktober
1982

Zur Wohnungsfrage

Wohnungsnot ist ein kleineres Übel.
Da Friedrich Engels verhindert war, zu einer Veranstaltung über die Wohnungsfrage im Rahmen der Wiener Festwochen 1982 auf Einladung Helmut Zilks teilzunehmen (das letzte Mal war F. E. am 11. September 1893 in Wien, auf Einladung Viktor Adlers) — drucken wir sein Referat, vom Herbst 1872. Es ist, über die läppischen 110 Jahre hinweg, von atemberaubender Aktualität.

Die sogenannte Wohnungsnot, die heutzutage in der Presse eine so große Rolle spielt, besteht nicht darin, daß die Arbeiterklasse überhaupt in schlechten, überfüllten, ungesunden Wohnungen lebt. Diese Wohnungsnot ist nicht etwas der Gegenwart Eigentümliches; sie ıst nicht einmal eins der Leiden, die dem modernen Proletariat, gegenüber allen früheren unterdrückten Klassen, eigentümlich sind, im Gegenteil, sie hat alle unterdrückten Klassen aller Zeiten ziemlich gleichmäßig getroffen.

Was man heute unter Wohnungsnot versteht, ist die eigentümliche Verschärfung, die die schlechten Wohnungsverhältnisse der Arbeiter durch den plötzlichen Andrang der Bevölkerung nach den großen Städten erlitten haben; eine kolossale Steigerung der Mietspreise, eine noch verstärkte Zusammendrängung der Bewohner in den einzelnen Häusern, für einige die Unmöglichkeit, überhaupt ein Unterkommen zu finden.

Die Wohnungsnot der Arbeiter und eines Teils der Kleinbürger unserer modernen großen Städte ist einer der zahllosen kleineren, sekundären Übelstände, die aus der heutigen kapitalistischen Produktionsweise hervorgehen. Sie ist durchaus nicht eine direkte Folge der Ausbeutung des Arbeiters, als Arbeiter, durch den Kapitalisten.

Die Ausdehnung der modernen großen Städte gibt in gewissen, besonders in den zentral gelegenen Strichen derselben dem Grund und Boden einen künstlichen, oft kolossal steigenden Wert; die darauf errichteten Gebäude, statt diesen Wert zu erhöhen, drücken ihn vielmehr herab, weil sie den veränderten Verhältnissen nicht mehr entsprechen; man reißt sie nieder und ersetzt sie durch andere. Dies geschieht vor allem mit zentral gelegenen Arbeiterwohnungen, deren Miete, selbst bei der größten Überfüllung, nie oder doch nur äußerst langsam über ein gewisses Maximum hinausgehen kann. Man reißt sie nieder und baut Läden, Warenlager, öffentliche Gebäude an ihrer Stelle.

Das Resultat ist, daß die Arbeiter vom Mittelpunkt der Städte an den Umkreis gedrängt, daß Arbeiter- und überhaupt kleinere Wohnungen selten und teuer werden und oft gar nicht zu haben sind; denn unter diesen Verhältnissen wird die Bauindustrie, der teurere Wohnungen ein weit besseres Spekulationsfeld bieten, immer nur ausnahmsweise Arbeiterwohnungen bauen.

Diese Mietsnot trifft den Arbeiter also sicher härter als jede wohlhabendere Klasse; aber sie bildet, ebensowenig wie die Prellerei des Krämers, einen ausschließlich auf die Arbeiterklasse drückenden Übelstand, und muß, soweit sie die Arbeiterklasse betrifft, bei gewissem Höhegrad und gewisser Dauer, ebenfalls eine gewisse ökonomische Ausgleichung finden.

Um die moderne revolutionäre Klasse des Proletariats zu schaffen, war es absolut notwendig, daß die Nabelschnur durchgeschnitten wurde, die den Arbeiter der Vergangenheit noch an den Grund und Boden knüpfte. Der Handweber, der sein Häuschen, Gärtchen und Feldchen neben seinem Webstuhl hatte, war bei aller Misere und bei allem politischen Druck ein stiller, zufriedener Mann „in aller Gottseligkeit und Ehrbarkeit“, zog den Hut vor den Reichen, Pfaffen und Staatsbeamten und war innerlich durch und durch ein Sklave.

Vor 27 Jahren habe ich („Lage der arbeitenden Klasse in England“) grade diesen Prozeß der Vertreibung der Arbeiter von Haus und Herd, wie er sich im 18. Jahrhundert in England vollzog, in seinen Hauptzügen geschildert. Die Infamien, die die Grundbesitzer und Fabrikanten sich dabei zuschulden kommen ließen, die materiell und moralisch nachteiligen Wirkungen, die diese Vertreibung zunächst auf die betroffenen Arbeiter haben mußte, sind dort ebenfalls nach Würden dargestellt.
Aber konnte es mir ın den Sinn kommen, in diesem, unter Umständen durchaus notwendigen geschichtlichen Entwicklungsprozeß einen Rückschritt „hinter die Wilden“ zu sehn? Unmöglich.

Im Gegenteil. Erst das durch die moderne große Industrie geschaffene, von allen ererbten Ketten, auch von denen, die es an den Boden fesselten, befreite und in den großen Städten zusammengetriebene Proletariat ist imstande, die große soziale Umgestaltung zu vollziehn, die aller Klassenausbeutung und aller Klassenherrschaft ein Ende machen wird. Die alten ländlichen Handweber mit Haus und Herd wären nie imstande dazu gewesen, sie hätten nie solch einen Gedanken fassen, noch weniger seine Ausführung wollen können.

Wie eine soziale Revolution diese Frage lösen würde, hängt nicht nur von den jedesmaligen Umständen ab, sondern auch zusammen mit vielen weitergehenden Fragen, unter denen die Aufhebung des Gegensatzes von Stadt und Land eine der wesentlichen ıst. Da wir keine utopistischen Systeme für die Einrichtung der künftigen Gesellschaft zu machen haben, wäre es mehr als müßig, hierauf einzugehen. Soviel aber ist sicher, daß schon jetzt in den großen Städten hinreichend Wohngebäude vorhanden sind, um bei rationeller Benutzung derselben jeder wirklichen „Wohnungsnot“ sofort abzuhelfen.

Es ist das Wesen des bürgerlichen Sozialismus, die Grundlage aller Übel der heutigen Gesellschaft aufrechterhalten und gleichzeitig diese Übel abschaffen zu wollen. Die bürgerlichen Sozialisten wollen, wie schon das „kommunistische Manifest“ sagt, „den sozialen Mißständen abhelfen, um den Bestand der bürgerlichen Gesellschaft zu sichern“, „sie wollen die Bourgeoisie ohne das Proletariat“.

Für unsere großstädtischen Arbeiter ist Freiheit der Bewegung erste Lebensbedingung und Grundbesitz kann ihnen nur eine Fessel sein. Verschafft ihnen eigene Häuser, kettet sie wieder an die Scholle, und ihr brecht ihre Widerstandskraft gegen die Lohnherabdrückung der Fabrıkanten.

Die Wohnungsfrage lösen wollen und die modernen großen Städte forterhalten wollen, ist ein Widersinn. Die modernen großen Städte werden aber beseitigt erst durch die Abschaffung der kapitalistischen Produktionsweise, und wenn diese erst in Gang gebracht, wird es sich um ganz andere Dinge handeln, als jedem Arbeiter ein ihm zu eigen gehörendes Häuschen zu verschaffen.

In Wirklichkeit hat die Bourgeoisie nur eine Methode, die Wohnungsumfrage in ihrer Art zu lösen — das heißt, sie so zu lösen, daß die Lösung die Frage immer wieder von neuem erzeugt: die allgemein gewordene Praxis des Breschelegens in die Arbeiterbezirke, besonders die zentral gelegenen unserer großen Städte, ob diese nun durch Rücksichten der öffentlichen Gesundheit und der Verschönerung oder durch Nachfrage nach großen zentral gelegenen Geschäftslokalen oder durch Verkehrsbedürfnisse, wıe Eisenbahnanlagen, Straßen, usw. veranlaßt wurden. Das Resultat ist überall dasselbe, mag der Anlaß noch so verschieden sein: die skandalösesten Gassen und Gäßchen verschwinden unter großer Selbstverherrlichung der Bourgeoisie. Von wegen dieses ungeheuren Erfolges, aber sie erstehn anderswo sofort wieder und oft in der unmittelbaren Nachbarschaft.

In der „Lage der arbeitenden Klasse in England“ gab ich eine Schilderung von Manchester, wie es 1843 und 1844 aussah. Seitdem sind durch Eisenbahnen, die mitten durch die Stadt gehn, durch Anlegung neuer Straßen, durch Errichtung von großen, öffentlichen und Privatgebäuden manche der schlimmsten, dort beschriebenen Distrikte durchbrochen, bloßgelegt und verbessert worden, andre ganz beseitigt; obwohl noch viele — abgesehn von der seither schärfer gewordenen gesundheitspolizeilichen Aufsicht — in demselben oder gar in schlimmerem baulichen Zustand sich befinden als damals. Dafür aber sind, dank der enormen Ausdehnung der Stadt, deren Bevölkerung seitdem um mehr als die Hälfte gewachsen, Bezirke, die damals noch luftig und reinlich waren, jetzt ebenso verbaut, ebenso schmutzig und überfüllt mit Menschen wie damals die verrufensten Stadtteile.

Dies ist ein schlagendes Exempel, wie die Bourgeoisie die Wohnungstrage in der Praxis löst. Die Brutstätten der Seuchen, die infamsten Höhlen und Löcher, worin die kapitalistische Produktionsweise unsere Arbeiter nachts einsperrt, werden nur — verlegt! Dieselbe ökonomische Notwendigkeit, die sie am ersten Ort erzeugte, erzeugt sie auch am zweiten. Und so lange die kapitalistische Produktionsweise besteht, solange ist es Torheit, die Wohnungsfrage oder irgendeine andere das Geschick der Arbeiter betreffende gesellschaftliche Frage einzeln lösen zu wollen. Die Lösung liegt aber in der Abschaffung der kapitalistischen Produktionsweise, in der Aneignung aller Lebens- und Arbeitsmittel durch die Arbeiterklasse selbst.

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