Grundrisse, Nummer 34
Mai
2010

10 Thesen zu migrantischer Arbeit

Dieser Text ist ein Ergebnis der Mobilisierungskampagne für den 1. März 2010, an dem unter dem Titel „24 Stunden ohne uns“ MigrantInnen in Frankreich, Italien und anderen europäischen Ländern aufgefordert wurden, ihre Arbeit für einen Tag niederzulegen. Die Thesen gehen zurück auf Diskussionen von AktivistInnen in Brescia, Bologna, Turin, Padua, Reggio Emilia, Rom etc. und sind der Versuch einer Verständigung über die Veränderungen der Arbeit in Zeiten der Krise.

1.

In Italien ebenso wie im restlichen Europa stellen die MigrantInnen einen immer wichtigeren Teil der Arbeitskraft, und zwar sowohl numerisch als auch in Bezug auf die Produktion. Sie haben mit allen ArbeiterInnen gemeinsam Kämpfe und Streiks zur Verteidigung der Arbeitsrechte ausgefochten. Kein Arbeitskampf kann heute noch die zunehmend wichtige Rolle der migrantischen Arbeit ignorieren.

2.

Die Migrationsgesetzgebung ist Teil der Arbeitsgesetzgebung. Vom Gesetz Turco-Napoletano vorbereitet, hat das Gesetz Bossi-Fini – neben den vielen Erscheinungsformen einer vertraglichen Prekarisierung – durch die Koppelung von Aufenthaltstitel und Arbeitsvertrag in hohem Maße erpressbare ArbeiterInnen geschaffen, da diese auch, was das Bleiberecht angeht, prekarisiert werden: Wer die Arbeit verliert, verliert auch seinen Aufenthaltstitel. Das Gesetz Bossi-Fini hat auf diese Weise die Arbeit selbst geschwächt.

3.

Das im letzten Jahr von der Regierung verabschiedete „Sicherheitspaket“, wie auch das Gesetz Bossi-Fini, ist eine der Antworten der Regierung, mit der sie die ArbeiterInnen den Preis für die Krise bezahlen lässt. Der im Sicherheitspaket verankerte institutionelle Rassismus und die so produzierte Illegalisierung, macht die MigrantInnen noch leichter erpressbar.

4.

Die Krise ist eine allgemeine Krise und unterscheidet nicht nach Hautfarben. Alle, MigrantInnen ebenso wie ItalienerInnen, müssen den Preis dafür bezahlen. Die MigrantInnen sind jedoch nicht nur von aller sozialen Sicherheit ausgeschlossen, sondern können darüber hinaus auch abgeschoben werden. Der institutionelle Rassismus dient der Spaltung der ArbeiterInnen, indem er einige glauben macht, dass sie „beschützt“ werden, während andere rausgeworfen und abgeschoben werden (und während die UnternehmerInnen gleichzeitig ihr Kapital über die Grenzen schaffen, um die migrantische Arbeitskraft „Zuhause“ auszubeuten). Der institutionelle Rassismus verweist also auf die Feinde unten, um jegliche Forderung nach oben abzuwürgen.

5.

Zentren zur Identifizierung und Abschiebung (CEI – Centri di identificazione ed espulsione früher Centri di Permanenza Temporanea) sind ein Ventil für den Arbeitsmarkt: Sinkt die Nachfrage, wird die überschüssige migrantische Arbeitskraft illegalisiert (der Verlust der Arbeitserlaubnis ist gleichbedeutend mit dem Verlust des Aufenthaltstitels) und abgeschoben. Die Verlängerung der Inhaftierungsdauer in den CEIs kann durch die Krise erklärt werden: Sechs Monate lang können MigrantInnen im Inneren des Landes „abgeschoben“ werden, ehe man sie vielleicht über die Grenze zurückschickt.

6.

Die Klandestinität wird nicht bekämpft, sondern produziert. Wer die Arbeit verliert, verliert obendrein den Aufenthaltstitel. Außerdem finden sich auch diejenigen mit Aufenthaltstitel immer öfter in einem unbestimmten Zustand zwischen regulärem und irregulärem Aufenthalt, und zwar wegen der langen Wartezeiten, die bei der Erneuerung des Titels entstehen. So vervielfachen sich die Formen informeller Arbeit ohne vertraglichen und rechtlichen Schutz. Die informelle Arbeit der MigrantInnen fungiert als Modell für die zunehmende Entstrukturierung und Informalisierung der Arbeit insgesamt, die nur noch der Regel des Machtausgleichs zwischen UnternehmerInnen und ArbeiterInnen gehorcht. Aus diesem Grund wird die Mehrzahl der Abschiebungen nicht durchgeführt, sondern dient lediglich der Schaffung von noch erpressbareren Männern und Frauen für den Arbeitsmarkt.

7.

Die von den Migrantinnen verrichtete Haus- und Sorgearbeit ist das offensichtlichste Moment dieses Prozesses. Dieses verweist darauf, dass das System der sozialen Produktion und Reproduktion nicht von der migrantischen Arbeit absehen kann (was der Amnestieschwindel einzig für SorgearbeiterInnen bekräftigt). Darüber hinaus macht es deutlich, dass die geschlechtliche Arbeitsteilung, die den Frauen die Haus- und Sorgearbeit überträgt, institutionalisiert und entlohnt ist; und dass es nicht ausreicht, die Tarifverträge [contrattazione] zu verteidigen, sondern dass vielmehr Kampfformen entwickelt werden müssen, die dem Prozess der Informalisierung der Arbeit gewachsen sind.

8.

Die Verschärfung der Kriterien für Familienzusammenführung, BürgerInnenschaft, aber auch was den Zugang zu sozialem Wohnbau angeht, haben den Effekt, dass in Italien nur isolierte und zu vorübergehendem Aufenthalt gezwungene ArbeiterInnen zum Bleiben berechtigt sind. Wer bleibt, muss wissen, dass die Zukunft schon vorgezeichnet ist: Die Kinder müssen die rassistischen Praktiken, die mit dem Schuleintritt verbunden sind, akzeptieren; Praktiken, die es ihnen verunmöglichen, aus ihrer Position als ArbeiterInnen auszutreten. Darüber hinaus werden die ArbeiterInnen keine Pension mehr haben. Im Angesicht der Krise ist es die Strategie der Regierung, die sozialen Kosten der Arbeit auf ein Minimum zu reduzieren. Dies erklärt auch, wieso MigrantInnen, die sich für eine Abschiebung oder Ausreise aus Italien entscheiden, die von ihnen bezahlten Beitragsleistungen nicht rückerstattet bekommen. Die MigrantInnen nehmen einen globalen Angriff auf die letzten Residuen der sozialen Wohlfahrt vorweg, der alle ArbeiterInnen betrifft.

9.

In Anbetracht einer solchen Situation ist es notwendig, sich nicht nur gegen Kündigungen und die verschiedenen Vertragsformen zur Wehr zu setzen; vielmehr müssen die nächsten Mobilisierungen zu Arbeitsrechten die Losung der Aufhebung des Gesetzes Bossi-Fini ebenso inkludieren wie die Forderung nach einer Regularisierung aller MigrantInnen. Die Kämpfe der MigrantInnen müssen die Arbeitsorte erfassen und zum Bestandteil von ein- und demselben Kampf aller ArbeiterInnen werden.

10.

Die Krise ist die Vorbereitung für eine komplette Umstrukturierung der Arbeitsverhältnisse. Ihr Preis beschränkt sich nicht auf das, was die ArbeiterInnen heute mit Kündigungen und Lohnausgleichskasse bezahlen, sondern stellt darüber hinaus einen neuerlichen Angriff auf ihre Fähigkeiten zur Organisierung sowie auf ihre Stärke dar. Dieses Match wird heute großteils auf dem Rücken der MigrantInnen ausgetragen. Dieser Umstand verlangt nach einer starken Antwort auf Rassismus und das Gesetz Bossi-Fini: Es verlangt nach einem Streik der migrantischen ArbeiterInnen als Streik aller ArbeiterInnen, und zwar sowohl der italienischen wie auch der migrantischen.

Übersetzt von einigen Leuten aus dem Umfeld der Grundrisse.
Die Übersetzung basiert auf der italienischen und der französischen Version des Textes, der unter http://lavoromigrante.splinder.com/post/22318404/Primo+marzo++MATERIALI:+10+tes abgerufen werden kann.

Eine Nachricht, ein Kommentar?
Vorgeschaltete Moderation

Dieses Forum ist moderiert. Ihr Beitrag erscheint erst nach Freischaltung durch einen Administrator der Website.

Wer sind Sie?
Ihr Beitrag

Um einen Absatz einzufügen, lassen Sie einfach eine Zeile frei.

Hyperlink

(Wenn sich Ihr Beitrag auf einen Artikel im Internet oder auf eine Seite mit Zusatzinformationen bezieht, geben Sie hier bitte den Titel der Seite und ihre Adresse bzw. URL an.)