Streifzüge, Heft 49
Juni
2010

Das Besondere und das Allgemeine

Spurenelemente einer Kritik des Staates. Inklusive Hegels Hymnen

Die Frage, was der Staat ist, ist doch von eminenter Bedeutung. Unsere Sicht soll noch einmal resümiert und an einigen Punkten auch präzisiert werden. Freilich ist das alles nur kursorisch und kann keine umfassende Untersuchung ersetzen. Keinesfalls handelt es hier um einen systematischen Durchgang, sondern lediglich um Fährten.

G.W.F. Hegel empfiehlt im § 274 seiner Rechtsphilosophie nichts weniger als Huldigung: „Man muss daher den Staat wie ein Irdisch-Göttliches verehren und einsehen, dass, wenn es schwer ist, die Natur zu begreifen, es noch unendlich herber ist, den Staat zu fassen.“ (Werke, 7:434) Dieser Affirmation wollen wir uns dezidiert verweigern. Uns dem Herben auszuliefern, ist unser Anliegen nicht, im Gegenteil. Aber Vorsicht: Gegen den Kapitalismus zu sein, das ist jedem und jeder unbenommen, aber gegen den Staat, also ein Staatsfeind zu sein, das gilt noch immer als ein kriminelles Vorhaben.

Bürgerlicher Charakter

In unseren bisherigen Analysen definierten wir Politik als Verallgemeinerung und Staat als Allgemeinheit bürgerlicher Gesellschaftlichkeit. „Politik als bürgerliche Verallgemeinerung war dazu da, aus der gesellschaftlichen Unordnung Ordnung zu machen, die als gesonderte Allgemeinheit, eben Staat, auftreten kann.“ „D.h. der Staat greift im Sinne der kapitalistischen Formation klassenübergreifend ein, er ist nicht der Ausschuss der Bourgeoisie, sondern der Ausschuss des gesamten Kapitalverhältnisses. Diese Differenz gilt es sich immer vor Augen zu halten, wenn man vom bürgerlichen Staat spricht. Der bürgerliche Staat ist nicht der Staat der Bourgeoisie, sondern der des Kapitals. Bürgerlich heißt, dass der Staat den Staatsbürgern ihre bürgerlichen Bestimmungen als Warenbesitzer in Freiheit und Gleichheit sichert und aufnötigt.“ (Franz Schandl, Kurswechsel am sinkenden Schiff. Der Staat und seine historischen Schranken. Notizen, Streifzüge 1/2000, S. 10)

Politik und Staat bilden also zwei Seiten einer Zusammengehörigkeit. „Der Begriff des Staates setzt den Begriff des Politischen voraus“, schreibt Carl Schmitt (Der Begriff des Politischen, Berlin 1932, S. 20). Und Niklas Luhmann meint: „Der Staat wird zum Bezugspunkt der Universalisierung von Politik. Man dokumentiert guten Willen im Bekenntnis zu ‚Werten‘.“ (Niklas Luhmann, Die Politik als Gesellschaft, Frankfurt am Main 2000, S. 215) Recht haben sie.

Der bürgerliche Charakter des Staates steht außer Frage, als Klassenstaat ist er aber nicht zu begreifen. Bürgerlich muss als die gesellschaftliche Formation betreffend dechiffriert werden, die Kategorie ist nicht reservierbar für eine spezifische Klasse der Produktionsverhältnisse. Natürlich mag der Staat des Öfteren (und insbesondere bourgeoise!) Klasseninteressen vertreten, aber das trifft erstens nicht seinen Kern und zweitens nicht nur auf die Bourgeoisie zu, sondern auch auf alle subalternen Klassen, Schichten und Fraktionen.

Zweifellos, der Staat ist nicht neutral, aber er ist nicht deswegen nicht neutral, weil er einer bestimmten Klasse gehorcht oder gar gehört, sondern weil er eine bestimmte Struktur und Form aufweist, an der nicht beliebig hantiert werden kann. Wer etwa die Staatsmacht erobert, kann nur bürgerlich regieren. Selbst wenn die Kapitalisten enteignet werden und der Reichtum umverteilt wird, ist damit das Kapitalverhältnis als Vergesellschaftung über Markt und Arbeit, Staat und Steuer noch nicht gebrochen, sondern es wird bloß planwirtschaftlich rekonfiguriert.

Der Staat achtet darauf, dass die Gesellschaft auf sich eingespielt ist und dies auch bleibt. Die gängigen Raster destillieren sich in erster Linie aus dem bürgerlichen Alltag. Die Leute sollen daran glauben, wie ihnen geschieht. Diese ideologische Haltung ist aber mehr Usus als Konsens, d.h. sie reproduziert sich durch stetes Erfüllen der bürgerlichen Pflichten: Arbeiten und Kaufen, Konsumieren und Reproduzieren, Autofahren und Fernsehen.

Bürgerliche Allgemeinheit ist nicht etwas, das dem Proletariat äußerlich ist, es ist vielmehr mit dazu da, diese herzustellen. Und dies tut es nicht gegen die eigenen Klasseninteressen, sondern durchaus im Sinne dieser, vor allem dann, wenn die Arbeiterklasse trade-unionistisch nichts anderes sein will als verwertbare Arbeitskraft. Das Klassenbewusstsein, die proletarische Identität ist nicht (weder an sich noch für sich) jenseits der bürgerlichen anzusiedeln, sondern immanenter Bestandteil dieser. Das Proletariat ist neben der Bourgeoisie die zweite bürgerliche Hauptklasse. Bürgerlich wohlgemerkt, nicht verbürgerlicht. Die Identität speist sich aus der täglichen Praxis des unbedingten sich „In-Wert-Setzen“, den dazugehörigen gemeinsamen aufklärerischen Werten (Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit), und sie liegt weiters im Bekenntnis zu Demokratie und Politik, Standort und Staat. Für Wachstum, Arbeitsplätze und Autobahnen ist man sowieso. Der Wille ist affirmativ.

Substanzielle Immanenz

Der Staat ist also nicht von kapitalistischen Interessen durchdrungen, der Staat ist das organisierte kapitalistische Interesse. Die Kräfteverhältnisse in ihm sind nur Variablen dieses Formprinzips, interne Faktoren, die über jenes Grundinteresse, das vornehmlich ein Geldinteresse ist, nicht hinausgehen können. Die unterschiedlichen Interessen haben durchaus Platz, sofern sie mit den Gesamtinteressen vermittelbar und budgetär finanzierbar sind. Bei allen Gegensätzlichkeiten verweisen alle Partikularinteressen auf eine schier unhintergehbare Eigenart: Sie wollen Geld. Ihr Verhältnis kann nicht ohne Behältnis gedacht werden. Der Staat ist mehr als ein verdichtetes Kräfteparallelogramm.

Hier sei auch eine kurze Abschweifung zum Staatspersonal gestattet. Auch wenn jetzt nicht en passant eine Theorie der Bürokratie (etwas frühreif und wild und manchmal auch ziemlich daneben bei Franz Schandl, Demos und Büros, FORVM, Nummer 452-454, Juli 1991, S. 64-73) beigegeben werden kann, wäre es doch zu schlicht gedacht, diese als verlängerten Arm des Kapitals zu deuten. Die Bürokratie entwickelt als unabdingbare Stütze der Verwaltung auch eigene Kapazitäten, die eben ihrer unmittelbaren Position entspringen und nicht ihrer gesellschaftlichen Funktion, somit also keiner abgeleiteten, sondern ihrer sich originär selbstermächtigenden Natur geschuldet sind. Bürokratien sind da nicht bloß instrumentell zu deuten, sie entfalten vielfältige Eigeninteressen, die nicht mit den Besonderheiten des Allgemeinen identisch sind, sondern dieses sogar konterkarieren können, denken wir an die effiziente Lohnpolitik der Staatsdiener, ihre Unkündbarkeit oder ihre Sonderstellung im Sozialversicherungssystem. Aber das nur nebenbei.

Primär ist der Staat nicht eine Agentur von Sonderinteressen, selbst wenn die Stellung der Bourgeoisie oder auch der Bürokratie eine günstigere ist als die des Proletariats, dessen Position wieder günstiger ist als die der Prekarisierten und Deklassierten. Das Sonderinteresse, das der Staat vertritt, ist das besondere Interesse des Allgemeinen an seinem Bestehen. Der Staat ist keineswegs der Ausschuss einer Klasse, wohl aber der Ausschuss einer Form durch Konstitution einer Sonderform, auf die sich alle beziehen müssen und bezogen werden. Der Staat ist auch mehr als der politische Ausdruck einer Herrschaft. Es kann durchaus Gesetze geben, die Bauern oder Arbeiter, Frauen oder Mieter bevorrechten. Nicht zufällig gilt der Staat als der allgemeine Ansprechpartner für alle spezifischen Anliegen, ist also die Appellationsinstanz per se. In ihm laufen die Sonderinteressen ihrer Regelung zu. Nur der Staat kann umsetzen oder zulassen, was gefordert wird.

Der Staat verkörpert das Allgemeininteresse, bloß folgt das Allgemeininteresse einer besonderen Vorgabe, die nicht mit Gemeinschaftlichkeit oder Gesellschaftlichkeit schlechthin verwechselt werden sollte. Mit keinem besonderen Interesse im System identisch zu sein, heißt freilich gerade das spezifische Interesse der bürgerlichen Gesellschaft an sich seine Eigenheit zu nennen. Die Gesellschaft ist nämlich das Allgemeine, das sich partout nicht als Besonderes zu erkennen geben will, sondern als Vorausgesetztes, ja ewig Bedingtes wie Bedingendes. „Der Staat ist wirklich, und seine Wirklichkeit besteht darin, dass das Interesse des Ganzen sich in die besonderen Zwecke realisiert. Wirklichkeit ist immer Einheit der Allgemeinheit und Besonderheit, das Auseinandergelegtsein der Allgemeinheit in die Besonderheit, die als eine selbständige erscheint, obgleich sie nur im Ganzen getragen und gehalten wird.“ (G.W.F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, Werke 7:428-429)

Hegels Hymnen

An anderer Stelle, im § 537 seiner „Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften“ fasst Hegel das so zusammen: „Das Wesen des Staates ist das an und für sich Allgemeine, das Vernünftige des Willens, aber als sich wissend und betätigend schlechthin Subjektivität und als Wirklichkeit ein Individuum. Sein Werk überhaupt besteht in Beziehung auf das Extrem der Einzelheit als der Menge der Individuen in dem Gedoppelten, einmal sie als Personen zu erhalten, somit das Recht zur notwendigen Wirklichkeit zu machen, und dann ihr Wohl, das zunächst jeder für sich besorgt, das aber schlechthin eine allgemeine Seite hat, zu befördern, die Familie zu schützen und die bürgerliche Gesellschaft zu leiten, – das andere Mal aber beides und die ganze Gesinnung und Tätigkeit des Einzelnen, als der für sich ein Zentrum zu sein strebt, in das Leben der allgemeinen Substanz zurückzuführen und in diesem Sinne als freie Macht jenen ihr untergeordneten Sphären Abbruch zu tun und sie in substantieller Immanenz zu erhalten.“ (Werke 10:330-331)

Zweifelsfrei, um diese substanzielle Immanenz geht es. Der Staat ist in seiner bürgerlichen Notwendigkeit die richtige Versöhnung auf falscher Basis. Das ist auch mit ein Grund, warum er in der gesellschaftlichen Linken meist hoch angesehen ist und als Rechts- und Sozialstaat geradezu angehimmelt wird. Ganz daneben ist das wiederum auch nicht, denn nur über ihn vermittelt konnten unterschiedliche Gruppen und Zusammenhänge ihre Anteile an gesellschaftlichen Möglichkeiten lukrieren. Immer wieder soll der Staat gutmachen, was der Markt schlecht gemacht hat. Das paradoxe Verhältnis lässt sich vielleicht so beschreiben: In einer Warengesellschaft sorgt der Staat gerade deswegen für den Markt, weil er dessen destruktives Potenzial permanent bremst und konterkariert. Er schützt damit den Markt vor sich selbst. Das unmittelbare Resultat jedoch schaut auf den ersten Blick so aus, als hätte es mit dieser Intention nichts zu tun.

Hegel präzisiert im § 289 seiner Rechtsphilosophie diese Differenz auf geradezu katechetische Weise: „Wie die bürgerliche Gesellschaft der Kampfplatz des individuellen Privatinteresses aller gegen alle ist, so hat hier der Konflikt desselben gegen die gemeinschaftlichen besonderen Angelegenheiten, und dieser zusammen mit jenem gegen die höheren Gesichtspunkte und Anordnungen des Staats, seinen Sitz.“ (7:458) Ganz unverblümt erklärt der deutsche Meisterdenker den (preußischen) Staat im § 258 zum Absolutum der Möglichkeit: „Der Staat ist als die Wirklichkeit des substantiellen Willens, die er in dem zu seiner Allgemeinheit erhobenen besonderen Selbstbewusstsein hat, das an und für sich Vernünftige. Diese substanzielle Einheit ist absoluter unbewegter Selbstzweck, in welchem die Freiheit zu ihrem höchsten Recht kommt, so wie dieser Endzweck das höchste Recht gegen die Einzelnen hat, deren höchste Pflicht es ist, Mitglieder des Staats zu sein.“ (7:399)

Wahrlich, die Pflicht zum Staat und der Wille zum Bürger sind es, die die Staatsbürger auszeichnen. Von Menschen ist da nicht die Rede. Tatsächlich richtet sich das Interesse des Staates immer an bestimmte Subjekte, an Staatsbürger, Rechtsträger, Käufer, Verkäufer, Geschäftsleute, Arbeiter, Unternehmer. Menschen interessieren in einem bürgerlichen Kostüm. Für den Hegel-Kritiker Marx war klar, dass der „moderne Staat selbst vom wirklichen Menschen abstrahiert oder den ganzen Menschen auf eine nur imaginäre Weise befriedigt“ (MEW 1:385). Emanzipation kann daher nicht von Staatsbürgern ausgehen, sondern lediglich von Menschen, die sich abseits der Maskierungen verwirklichen wollen.

Staatsbürgerkunde

Die klassische Staatslehre postulierte, dass erst Staatsvolk, Staatsgebiet und Staatsgewalt einen Staat ausmachen. Staat ist also Raum für ein Volk mit Gewalt. Als Staatsvolk gelten die als Staatsbürger zusammengefassten Subjekte. Sie müssen als Inländer geboren sein oder zu solchen ernannt werden. Sie werden als Staatsangehörige definiert und das sind sie auch im engsten Sinne des Wortes. Erst der Staat formiert die ihm Unterworfenen zu Staatsbürgern, d.h. zu ihm gehörigen Personen mit Rechten und Pflichten. Der Begriff handelt von spezifischen Leuten in einem spezifischen Raum mit spezifischen Instrumenten. Sie haben ein spezifisches Interesse zu haben, das staatlicherseits als nationales Anliegen inszeniert wird.

Auffällig ist, dass bei dieser taxativen Aufzählung die Zeit fehlt. Obwohl historisch geworden, will kein Staat sich als historisch betrachten. Akkurat nicht. Die historische Stellung des Staates soll sich als ahistorische Vorstellung in den Köpfen der Subjekte spiegeln. Nicht zufällig kommt Staat von „status“, was bloß bedeuten kann, dass der Staat, trotz aller Dynamiken, das System vor grundsätzlichen Änderungen bewahren möchte und darin auch seine Aufgabe sieht. Der Staat konstituiert sich als eherne Statik. Stabilität ist Bedingung wie Ziel.

Der Staat soll nicht als temporale Größe kategorisiert werden. Kaum jemand käme auf den naheliegenden Gedanken, neben dem Staatsgebiet eine Staatsdauer anzugeben. Das Gewordene hat nie das Gewesene zu werden, lautet seine unheimliche Maxime, die einmal mehr synthetischer als analytischer Natur ist. Karl Renners Satz „Der heutige Staat ist eine Übergangserscheinung der sozialen Entwicklung“ (Mensch und Gesellschaft. Grundriss einer Soziologie, Wien 1952, S. 279) hat da schon fast ein staatsfeindliches Bukett.

Und noch ein Geltungsbereich ist in der Staatsbürgerkunde verloren gegangen: das Budget. Auch die Staatsfinanzen wurden in der klassischen Definition unterschlagen. Geldmonopol meint mehr als Steuermonopol, es meint auch das ausschließliche Recht, Geld zu drucken, es für gültig und ungültig zu erklären. Das Medium für den freien Markt als Zeichen ist staatsmonopolistisch geprägt, obwohl dessen Wertung eine marktwirtschaftliche Angelegenheit ist. Man sieht, es ist alles sehr kompliziert. Der Staat verfügt über das Monopol des Geldes, weil er es herstellt und ausgibt, aber erst Arbeit und Markt können das Geld mit Wert erfüllen, ohne den es ja nichts ist. Diese gegenseitige wie eherne Angewiesenheit ist prinzipiell kein Verhältnis der Subordination, sondern eines der Koordination. Ihre Gemeinsamkeit liegt in abstrakter Arbeit und Wert.

Gewalt als Recht

Staat bedeutet Monopolisierung von Gewalt, Recht und Steuern. Er ist die organisierte Gewalt, die sich in einem Raum zu einer Zeit durchgesetzt hat. Aber nicht nur der historische, auch der aktuelle Schlüssel zum Staat ist die Gewalt. Gerade die Gewalt ist es, die für Ordnung sorgt. Zuerst. Zwischendurch. Zuletzt. Gewaltmonopol bedeutet, dass der Staat es sich vorbehält, Gewalt anzuwenden oder Gewalt zuzulassen.

Die Selbstverpflichtung des Staates wiederum nennt sich Rechtsstaat. In ihm soll die Gewalt der Strukturen gar nicht mehr durchschimmern, sondern das Bild freiwilliger Vertragsverhältnisse annehmen. Indes ist diese Selbstverpflichtung nur dann zugegen, wenn der Staat selbst nicht zur Disposition steht. Ist Letzteres der Fall, offenbart der Ausnahmezustand den wahren Charakter des Staates durch die ihm innewohnende, aber nun offen eingesetzte Gewalt. Es ist nicht einfach so, dass das durch Gewalt Geschaffene sich von dieser emanzipiert hat und bloß noch zivilisiert auftritt. Das ist eher Maniküre. Gewalt ist eine Realität, auch dort, wo sie nicht erscheint. So lange es ein Recht gibt und geben muss, ist zu sagen, dass es kein höheres Recht gibt als die Gewalt.

Auch in den entwickelten Demokratien ist der Krieg der Menschen gegeneinander nicht aufgehoben, er wird nur durch staatliches Recht reglementiert und als Konkurrenz ausgelobt. Aus den Wölfen sind Hunde geworden. Der moderne Staat ist die Materialisierung der Gewalt über ihre Unmittelbarkeit hinaus. Je stärker der Staat ist und die Subjekte sich als Staatssubjekte begreifen, desto weniger muss er sie aktivieren. Gewalt ist nicht mehr flüssig, sie hat sich gefestigt und wurde in das Korsett des Rechts gesteckt. Die westliche Zivilgesellschaft, so ihre liebgewonnene Eigendefinition, möchte jene am liebsten gar nicht demonstrieren müssen. Es geht um Versubjektivierung des Zwanges, sodass aus Herrschaft Selbstbeherrschung wird. Diese Zurichtung der Akteure ist wiederum kein Beschluss, sondern ein Fazit. Das, was täglich abverlangt und eintrainiert wird, erscheint als freier Wille und nicht als individuelle Ohnmacht. Diese Selbsttäuschung ist konstitutiv für die bürgerliche Psyche. Ich verwechselt sich stets mit sich.

In den kapitalistischen Zentren beschneiden Markt und Staat einander die destruktiven Potenzen. Der Staat ist aber nicht bloß das Institut der gesellschaftlichen Befriedung, sondern auch der Hort konzentrierter Aggressivität. Man denke an den großen Ernstfall, den Krieg, der ohne ihn nicht nur nicht machbar ist, sondern den der Staat ausruft und für den er seine Bürger mobilisiert und verpflichtet. Kriegsmonopol bezeichnet sich das und Kriegsrecht…

Versicherung und Verträglichkeit

Man darf den Staat wohl zu Recht als den zentralen Garanten der bürgerlichen Gesellschaft interpretieren. Alle seine Werkzeuge und Instrumente, Institutionen und Apparate werden dafür eingesetzt, den Kapital- und Herrschaftsverhältnissen Bestand zu gewähren. Das Arsenal ist groß. Man denke etwa an die infrastrukturellen Bedingungen. Die sind trotz aller Privatisierungen noch immer staatliches Terrain.

Soziale Wohlfahrt und polizeiliche Gewalt unterscheiden sich zwar als Mittel, aber nicht als Zweck. Repression (Überwachen, Strafen, Kontrollieren, Sortieren) und Fürsorge (Beihilfen, Förderungen, Zuschüsse) sind unterschiedliche Varianten einer Sicherheit versprechenden Maschine. Der Staat, das ist das große Zentralversicherungssystem der bürgerlichen Gesellschaft. Droht dieser Versicherung die Insolvenz, dann steht die gesellschaftliche Entsicherung auf der Tagesordnung, das Gewaltmonopol wird sich entweder verschärfen oder in Gewaltpole zerfallen.

Wenn immer mehr auf immer weniger zugreifen können, wird der Kampf um die staatlichen Ressourcen schriller und heftiger. Das Hauen und Stechen, das Schimpfen und Rempeln ist auch unübersehbar und unüberhörbar. Ohne die „sozialstaatliche Redistribution“ (Ernst Lohoff, Out of area, Streifzüge 31/2004, S. 10) hätte sich die moderne Demokratie schon gesprengt, indes gehen wir Zeiten entgegen, wo jene immer unmöglicher wird, der Staat zusehends auf seine vermeintlichen Kernaufgaben, die Verwaltung der öffentlichen Ordnung, reduziert werden soll. Soziale Abfederung erscheint dann als Luxus, für die der Staat nicht mehr zuständig ist, sondern jede und jeder Einzelne. Vorsorge statt Fürsorge nennt sich dann dieses Programm. Sozialstaat und Rechtsstaat gehören freilich zusammen. Wird jener abgebaut, ist dieser in Gefahr.

Verträglichkeit ist jedenfalls nicht unmittelbar vorhanden, sondern muss durch gesonderte Verträge gesichert werden. Unser Stoffwechsel und unsere Dienste bedürfen der rechtlichen Kodifizierung. Diese fällt in den staatlichen Bereich und ist Folge politischer Verhandlung. Das Misstrauen, das zur mentalen Grundkonstitution der bürgerlichen Subjekte gehört, muss eben durch Verträge entschärft und kanalisiert werden. Der Kauf ist ein klassischer Vertrag, d.h. jede ökonomische Transaktion bedarf der staatlich durchgesetzten Rechtsform. Ist ein Konflikt zwischen den Geschäftspartner genannten Tauschgegnern nicht lösbar, ist die staatliche Gerichtsbarkeit gefordert.

Verträge sind wie Sicherheitszertifikate, sie stabilisieren den ökonomischen Verkehr, indem sie Tauschgeschäfte zu Rechtsgeschäften machen. Verträge unterstreichen also nicht die profane Verträglichkeit des Marktes, sondern seine wesensmäßige Unverträglichkeit. Daher schreien auch jene, die den blanken Markt schlechter vertragen, unaufhörlich nach Recht und Gesetz. Was bleibt ihnen heute auch anderes übrig, als Vater Staat anzurufen? Nicht zufällig ist daher das Proletariat staatsfreundlicher als die Bourgeoisie. Ein Umstand, den Vertreter eines offensiven Klassenkampfs wohl schwer erklären können.

Verträglichkeiten, die stets aufs Neue hergestellt werden müssen, stabilisieren allerdings nur, solange Zahlungsfähigkeit gegeben ist. Ist diese Flüssigkeit bedroht oder verschwunden, stockt der Warenverkehr: Käufer können nicht mehr kaufen, Verkäufer können nicht mehr verkaufen. Nicht bloß das Geschäft kommt zum Erliegen, auch viele Bedürfnisse können nicht mehr befriedigt werden. Insbesondere wenn die Ware Arbeitskraft nicht mehr verwertbar ist, zeitigt das böse Konsequenzen. Wie sollte das in einer Gesellschaft anders sein, wo Leben von Kaufen und Verkaufen abhängig ist? Wenn dann noch sozialstaatliche Sicherungssysteme ausbrennen oder abgebaut werden, sind Absturz und Demütigung unvermeidlich.

Garantie heißt auch Sozialisierung von Verlusten, die vom Markt nicht mehr gedeckt werden können. Natürlich übernimmt der Staat und mit ihm die Gesellschaft (genauer: die Steuerzahler) diese Haftungen. Wer sonst sollte sie auch übernehmen können? Gerade darin besteht ja die Aufgabe des Staates: Koste es, was es wolle, der Markt ist zu gewährleisten. Wenn dieser zusammenzubrechen droht, dann ist es die vornehmste Aufgabe seines Staates, ihn in dieser Situation zu retten. Fragt sich nur, wie lange er das noch umsetzen kann, ohne dass es zur monetären Implosion führt.

Perpetuationen

Der Staat verdeutlicht, dass das äquivalente Tauschprinzip nicht auf den gesamten Stoffwechsel verallgemeinerbar ist. Die totalitäre Tendenz der Ware-Geld-Beziehungen kann also nie total werden. Das staatliche Rezept besteht nun in der Alimentierung, in der Substitution von Zahlungen. Der Staat baut Umleitungen, die wiederum Zuleitungen zur Zirkulation sein sollen. Er ist vielmehr der Pol, der die Warengesellschaft im Gleichgewicht halten will. Der Staat funktioniert nicht wie der Markt, aber er funktioniert für den Markt. Den Staat kann man wohl nicht aus der Ökonomie ableiten, man kann ihn aber auch nicht ohne sie denken. Ein klassisches Basis-Überbau-Schema erklärt da viel zu wenig.

Gemeinhin galt der Staat als Gegensatz zum Markt. Aber das ist falsch, denn es handelt sich nicht um zwei einander äußere Objekte, die jeweils zueinander sich bestimmen müssen. Selbst „der wirtschaftliche Interventionismus ist nicht, wie die ältere liberale Schule meint, systemfremd aufgepfropft, sondern systemimmanent, Inbegriff von Selbstverteidigung; nichts könnte den Begriff von Dialektik schlagender erläutern. Analog wurde einst von der Hegelschen Rechtsphilosophie, in der bürgerliche Ideologie und Dialektik der bürgerlichen Gesellschaft so tief ineinander sind, der von außen, angeblich jenseits des gesellschaftlichen Kräftespiels intervenierende, die Antagonismen mit polizeilicher Hilfe mildernde Staat von der immanenten Dialektik der Gesellschaft selbst herbeizitiert, die sonst, Hegel zufolge, sich desintegrierte.“ (Theodor W. Adorno, Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft?, Gesammelte Werke 8, S. 367)

Der Staat ist eine ganz spezifische Form öffentlicher Verwaltung, nicht diese schlechthin. Die res publica muss kein Staat sein, aber in der bürgerlichen Ordnung kann sie nichts anderes sein als dieser, er ist nur notwendig, wo es eine „ungesellschaftliche Gesellschaftlichkeit“ (Marx) gibt. Erst der Staat integriert die Gesellschaft in sie selbst. Er ist „the helping hand“, die stets eingreift, damit die Verhältnisse nicht sich selbst erledigen. Der Staat organisiert die Gesellschaft. Er ist der vom Markt ausgehaltene Regulationsapparat, der wiederum von ihm gesicherten kapitalistischen Gesellschaft. Staat und Markt bilden eine ausdifferenzierte, aber systemische Einheit, ihre Sphären sind zwar theoretisch zu trennen, aber praktisch sind sie unteilbar. Staat und Markt, das ist ein unauflösbares Verhältnis gegenseitiger Angewiesenheit. Der Staat perpetuiert den Markt perpetuiert den Staat perpetuiert…

Ökonomisch sind die öffentlichen Einrichtungen der Großkunde und der Subventionsgeber der sogenannten Privatwirtschaft. Dass der Staat schlecht wirtschaftet, ist sage und schreibe Unsinn, denn es ist nicht Aufgabe des Staates, Profit zu machen, sondern die von der Verwertung geschädigten Objekte (Menschen, Infrastruktur, Umwelt) zu sanieren und reparieren, gerade mit Geldern, die aus den Verwertungsprozessen stammen (= Steuern). Das tut er mehr schlecht als recht und vor allem auch immer weniger. Nicht der Gewinn ist Ziel des Staates, sondern die Garantie des Marktes und seiner Gesellschaft, auf dass diese bestehen bleiben kann.

Aufgepumpte Staatsblasen

Ein Grundproblem des Staates ist freilich, dass er aus der Wirtschaft alimentiert wird. Auch der Staat verkehrt mit dem Zahlungsmittel des Marktes. Obwohl er sie druckt und prägt, schafft er seine Mittel nicht selbst, sondern muss sie durch Besteuerungen lukrieren. Eine gelingende Verwertung ist somit Voraussetzung seiner Tüchtigkeit. Staatliches Handeln ist gebunden an das zentrale Medium der Ökonomie, das Geld. Steuern müssen in der Ökonomie durch Arbeit erwirtschaftet werden, um abgeführt werden zu können. Politische Entscheidungen sind nicht Entscheidungen, so nach dem Motto: Was wollen wir?, sondern sie sind budgetär prädisponiert und limitiert. Leistbar ist das, was finanzierbar ist oder sein wird. Daher auch die permanenten Debatten über die Leistungsfähigkeit des Staates, über Staatsschulden und Budgetdefizite.

Es ist letztlich nicht der politische Beschluss, der den Staat prägt, sondern die ökonomische Potenz, die seine Handlungen dimensioniert. Jener ist innerhalb dieser zu verorten, seine Eigenständigkeit ist als Bewegung auf diesem Feld und nicht außerhalb davon zu suchen. Jeder politische Beschluss kennt so die Summe seiner Kosten und sollte er sie nicht erkennen bzw. ignorieren, so erfährt er sie aus den monetären Konsequenzen.

Indes ist nicht immer leicht zu sagen, was da nun noch real oder schon fiktiv ist an den vagabundierenden Geldern. Gemeinhin erscheint es so: Die Realität des Geldes beweist sich in der Realisierung des Kaufakts. Ist das Geschäft gemacht, dann muss das Geld wirklich gewesen sein, sonst hätte es nicht kaufen können. Realhalluzination nennt sich das. Wenn jetzt jemand einwendet, das seien Zirkelschlüsse, die der primitivsten Logik ins Gesicht schlagen, dann ist zu antworten: Genau das. Die Rationalität war immer irrational gewesen, es sollte bloß nicht auffallen.

Inzwischen wird der Kapitalismus zusehends zum Pyramidenspiel. Würden tatsächlich die Gelder sich gleichzeitig zu realisieren versuchen, wäre der Zusammenbruch eine Frage von Stunden. Man sieht dem Geldschein, der Wertkarte, dem Konto nicht an, ob sie nun real oder fiktional sind. Ein nicht unbeträchtlicher Teil, das ahnen wir alle, ist reine Halluzination. Aber bis zu einem gewissen Grad trägt dieser Bluff. Was soll auch sonst noch tragen? Dort, wo das Getäuscht-werden-Wollen und das Täuschen zur Grundkonstitution der Subjekte gehört, ist das so. Zumindest so lange, bis eine Blase platzt. Gegenwärtig erleben wir ja eine Phase sich aufpumpender Staatsblasen.

Der Staat als kapitaler Herrschaftsraum wird allerdings poröser. Dem flanierenden und marodierenden Kapital kann er kaum noch etwas entgegensetzen. Globalisierung heißt, dass der Markt den Staat sprengt. Staaten haben Grenzen, Märkte nicht. Das Steuermonopol einzelner Nationalökonomien wirkt immer lächerlicher. Die funktionalen Eigenschaften erschlaffen. Was die Geschwindigkeit betrifft, scheint der Weltmarkt immer schneller und der Nationalstaat immer langsamer zu werden. Er gibt nichts mehr vor, er gibt nur mehr nach.

Vor 200 Jahren sagte ein Schuldirektor namens Hegel seinen Nürnberger Gymnasiasten: „Wenn eine Familie sich zur Nation erweitert hat und der Staat mit der Nation in eins zusammenfällt, so ist dies ein großes Glück.“ (4:246) Wahrlich, diesen Strömen des Glücks entspringen fast alle modernen Katastrophen. Das schiere Gegenteil ist zu behaupten: Der Staat, das ist nichts weniger als das heimliche Eingeständnis des menschenfeindlichen und autoaggressiven Charakters der kapitalistischen Gesellschaft. Das Glück ist jenseits davon.

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