Grundrisse, Nummer 36
November
2010

Das Ende der Krise

Vorwort des ÜbersetzerInnenkollektivs

Wir veröffentlichen hier das Vorwort zum Buch „Die Krise denken. Finanzmärkte, soziale Kämpfe und neue politische Szenarien“. Das Buch ist soeben im Unrast Verlag erschienen.

„Aktien, Anleihen, Rohstoffe – oder doch die Immobilie? Im Ausklang der schlimmsten Wirtschaftskrise seit Jahrzehnten sollten Anleger auch ihr Portfolio aufräumen“, rät das zur Spiegel-Gruppe gehörende manager magazin seinem geneigten Publikum Ende Juli 2010. Mit der Einschätzung, die Krise sei zu Ende, steht das Wirtschaftsblatt indes nicht alleine da. Bürgerliche Medien versuchen seit Monaten, das Ende der Krise herbeizufabulieren und von den Gipfeln wie aus den Niederungen lächeln Regierung und die größeren Teile der Opposition strahlend den kommenden blühenden Landschaften entgegen. Staatspleiten (einstweilen) abgewendet, Banken gerettet, Ende gut – alles gut. Ganz anders hingegen sieht die Situation für jene übergroße Mehrheit von Menschen aus, die – allem Anschein nach – diese blühenden Landschaften eines künstlich am Leben gehaltenen Neo-Keynesianischen-Neoliberalismus nicht zuletzt mit ihrem Verzicht auf einst hart erkämpfte soziale Leistungen (Bildung, Gesundheit, Rente) teuer werden bezahlen müssen …

In den nächsten Wochen und Monaten wird sich zeigen, ob sich „die Leute“ die Abwälzung der Krisenfolgen auf ihre Schultern gefallen lassen werden. Das Gegenteil jedenfalls würden wir uns wünschen. Was aber hat das mit Theorie, mit Krisentheorie zu tun? Und was hat uns – größtenteils prekär (Nicht-)Arbeitende – dazu getrieben, das vorliegende Buch ins Deutsche zu übersetzen? Warum haben wir Stunden um Stunden darauf verwandt, um der schier unüberschaubaren Zahl von Büchern über die Krise ein weiteres hinzuzugesellen? In aller Kürze: Die Tatsache, dass im deutschsprachigen Raum bislang kaum der postoperaistischen Strömung zurechenbare Analysen der gegenwärtigen Krise verfügbar sind. Von Marx-Orthodoxie bis zu (neo)regulationstheoretischen Ansätzen reicht die Bandbreite der in letzter Zeit erschienenen Bände, von mehr oder weniger links-keynesianischen Texten ganz zu schweigen.

All diesen Versuchen gemein ist allerdings eine Problematik, die uns letztlich zur Übersetzung des vorliegenden Bandes bewogen hat: Sie versuchen, mit Werkzeugen, die einem theoretischen Arsenal entnommen sind, dessen avanciertesten Punkt die Analyse des Fordismus markiert, die erste große Krise des Postfordismus in den Griff zu bekommen. Dies führt nicht nur zu unzureichenden analytischen Ergebnissen, sondern auch zu Entwürfen politischer (oder auch ökonomischer) Auswege aus der Krise, die jenen der 1970er, 1980er und 1990er Jahre – und teilweise sogar weit davor – zum Verwechseln ähneln.

Die postoperaistischen Zugänge zur Krise – und darunter fallen, im weitesten Sinne, sämtliche Beiträge in diesem Band, dessen Konzeption auf ein Seminar zur Krise des Netzwerks UniNomade zurückgeht – setzen sich von den vorgenannten unter anderem durch folgende Schwerpunktsetzungen ab, die unserer Ansicht nach unverzichtbare Bestandteile einer zeitgenössischen Kritik der politischen Ökonomie darstellen:

1) wird nicht versucht, die Finanzialisierung des globalen Kapitalismus in den traditionellen (auch von den meisten marxistischen Ansätzen affirmierten) Kategorien zu begreifen, vielmehr wird die Finanzakkumulation im Zusammenhang postfordistischer Vergesellschaftungsformen interpretiert. Die aktuelle Krise ist also die erste im Zeitalter der Hegemonie der immateriellen Arbeit und eine adäquate Krisentheorie muss diesem Umstand Rechnung tragen. Die Beiträge zum „Rente-Werden“ des Profits und zur Zentralität der Governance-Formen, durch die der Krise (vergeblich) beizukommen versucht wird, können zudem als implizite Kritik an Überakkumulations- bzw. Unterkonsumtionskrisentheorien gelesen werden; denn

2) ist die Krise nicht auf eine Eigenlogik einer anonym ablaufenden Kapitalakkumulation zu reduzieren. In kritischer Beerbung des Operaismus wird der Anteil der mal offenen, mal untergründigen sozialen Bewegungen und Kämpfe an der Krise wie an möglichen Überwindungsperspektiven nicht als schieres Supplement, sondern als Herzstück einer postfordistischen Krisentheorie vorgestellt. Das Verhalten der Multitude fügt sich eben nicht in die anonymen Prozesse kapitalistischer Verwertung, sondern bringt diese mitunter ziemlich ins Stocken. Dies verweist wiederum auf die bereits angesprochene Hegemonie der immateriellen Arbeit, die tendenziell auf einer Wiedergewinnung eines umfassenden produktiven Vermögens beruht – in Anlehnung an Marx als „General Intellect“ bezeichnet. Die damit einhergehende potenzielle Autonomie der ProduzentInnen gegenüber der kapitalistischen Herrschaft im Produktionsprozess verweist schließlich auf einen weiteren Aspekt, nämlich auf

3) die Perspektive des Communen. Die postfordistische Produktion lässt sich nicht auf eine von Waren und Dienstleistungen reduzieren, sie ist auch eine direkte Produktion gesellschaftlicher Verhältnisse, eine Produktion von Subjektivitäten und intersubjektiven Beziehungen selbst geworden. Die erwähnte tendenzielle wie potenzielle Autonomie der Multitude gegenüber dem kapitalistischen Kommando verstärkt sich in dieser Entwicklung. Die Produktion des Gemeinsamen oder Communen eröffnet neue Perspektiven politischen Handelns, um eben jener Transformation gerecht zu werden. Eine solche politische Perspektive artikuliert beispielsweise die Forderung nach einem bedingungslosen garantierten Grundeinkommen für alle, zum einen als Anerkennung der biopolitischen Produktivität der Multitude und zum anderen als strategischer Einsatz, der über die warenförmige Vergesellschaftung der Arbeit selbst hinausweist, indem er das Recht auf Einkommen vom Zur-Verfügung-Stellen des menschlichen Arbeitsvermögens um (fast) jeden Preis trennt. Doch der Begriff des Communen zielt auf mehr, nämlich auf das Auffinden jener kommunistischen Tendenz, die jenseits von Verstaatlichung und Keynesianismus Perspektiven einer grundsätzlichen Überwindung des Kapitalismus eröffnet. Keineswegs erhebt der vorliegende Band einen Anspruch auf Vollständigkeit, vielmehr werden erstmals neue theoretische Zugänge eröffnet, nicht selten wird Neuland betreten. Einige kritische Anmerkungen sollen dennoch kurz umreißen, welche politisch zentralen Felder zukünftiger gesellschaftlicher Auseinandersetzungen im Rahmen einer Weiterentwicklung postoperaistischer kritischer Theorie unbedingt angegangen werden sollten:

Klimakrise & gesellschaftliche Naturverhältnisse: Die gegenwärtige Krise ist auch eine Krise gesellschaftlicher Naturverhältnisse. Den Zusammenhängen zwischen Erderwärmung und kapitalistischer Vergesellschaftung wird seit langem nachgegangen. Noch zu leisten wäre eine Verklammerung krisentheoretischer und politisch-ökologischer Ansätze, die auch eine Erweiterung der Dimension des Communen ermöglichen würden, wie dies zum Beispiel in der Debatte um Commons geschieht, um Gemeingüter, soziale Dienstleistungen und gemeinsame (Energie)Ressourcen, die zentrale Bestandteile einer post-kapitalistischen Assoziationsweise sein werden. [1]

Autonomie der Migration: Die Krise ist natürlich nicht ohne Einfluss auf die globalen Migrationsströme geblieben. Die Mechanismen „selektiver Inklusion“ sind – nicht zuletzt angesichts steigender Arbeitslosigkeit – rigider geworden. MigrantInnen, zumal illegalisierte, bekommen die Auswirkungen der Krise doppelt und dreifach zu spüren. Dennoch ist die „Autonomie der Migration“ nach wie vor präsent: Netzwerke und das kollektive Wissen migrantischer Communities lassen es auch in Krisenzeiten nicht zu, dass MigrantInnen zu Spielbällen politisch-ökonomischer Push- bzw. Pull-Effekte werden. Obwohl postoperaistische TheoretikerInnen viel zur Weiterentwicklung der Theorie der „Autonomie der Migration“ beigetragen haben und noch immer beitragen, ist von einer Verknüpfung von Migrations- und Krisentheorie bislang noch wenig zu merken.

Internationale Arbeitsteilung: Die Verlagerung von großen Teilen der Produktion materieller Infrastruktur nach China und generell nach Asien, und in welchem Verhältnis diese Verlagerung zur These der Dominanz der immateriellen Arbeit steht, wird in den Beiträgen lediglich am Rande thematisiert. Es stellt sich die Frage, wie das „Rente-Werden“ des Profits mit diesen Verlagerungen im Zusammenhang steht und wie diese mit jenen Produktionsketten zusammenhängen, bei denen die immaterielle Arbeit des Marketings, der Werbung und der Aufbereitung des Marktes den größten Teil des Marktpreises des verkauften Produktes ausmacht.

Unser vierter und beileibe nicht unwichtigster Kritikpunkt betrifft das Geschlechterverhältnis. Wie bereits unschwer aufgrund der Geschlechterzusammensetzung der AutorInnen dieses Buches vermutet werden kann, bleibt auch die inhaltliche Auseinandersetzung mit den Aspekten geschlechtlicher Arbeitsteilung und patriarchaler Governance – abgesehen von Randbemerkungen bei einzelnen AutorInnen – schlicht defizitär: Dies drückt sich zunächst einmal auf formaler Ebene durch die vorgeblich geschlechtsneutrale (d.h. männliche) Schreibweise aus, die von uns jedoch in der Übersetzung insofern „korrigiert“ wurde, als wir mehr oder weniger durchgängig die weibliche Form (mit großem „I“) verwendet haben. An diese Stelle gehört auch unsere Kritik daran, „klassische“ Begriffe linker Theorie, die aus dem 19. oder 20. Jahrhundert stammen und die in anderer Hinsicht sehr wohl reflektiert und weiter entwickelt werden, in der geschlechtsneutralen (d.h. männlichen) Form zu tradieren und festzuschreiben, als hätte es nie Frauenbewegungen bzw. Feminismen oder Theorien zur Feminisierung der Arbeit gegeben. Dies wird bei der Übersetzungsarbeit, die eine sehr intensive Beschäftigung mit Texten darstellt, bei bestimmten Begriffen besonders augenfällig. Als Beispiel nennen wir hier die für die Produktion und Wiederaneignung des Communen zentrale Vorstellung von den kollektiven Produktionen des Menschen durch den Menschen, eine Formulierung, die im Italienischen „produzioni dell’uomo per l’uomo“ heißt. Da im Italienischen, wie auch in anderen Sprachen, der Signifikant Mann identisch mit dem Signifikanten Mensch ist, ruft dies – im Besonderen bei Übersetzerinnen – ein starkes Gefühl der Auslöschung von Frauen hervor, zumal mit keiner Silbe erwähnt wird, dass es sich hierbei um Tätigkeiten handelt (im Gesundheitsbereich, in der Pflegearbeit, bei der Kinderbetreuung, im Bildungssektor …), die zu einem nicht unbeträchtlichen Teil von Frauen verrichtet werden. Ähnlich verhält es sich mit der vorgeblich geschlechtsneutralen Darstellung des Dienstleistungssektors im Allgemeinen, der paradigmatisch für die Auflösung der Trennung von Arbeitszeit und Freizeit, d.h. für die Aneignung von nicht anerkannter Arbeit durch das Kapital ist.

In einem Text, der jedoch nicht Teil des vorliegenden Buches ist, beschreibt die ebenfalls im Netzwerk UniNomade aktive Arbeitssoziologin und Journalistin Cristina Morini sehr prägnant die Feminisierung der Arbeit als Aspekt dieses – allzu häufig verschleierten oder ausgeblendeten – Zusammenhanges der Geschlechterverhältnisse und der Veränderungen des Kapitalismus:

Berufstätigkeit bietet Frauen eine effektive Möglichkeit der Emanzipation angesichts männlicher Unterdrückung, wenngleich innerhalb der Grenzen hierarchischer Arbeitsorganisation. In Anbetracht des Niveaus verallgemeinerter Prekarität, die sich in ein strukturelles Element des gegenwärtigen Kapitalismus verwandelt hat, ist das ‚Frau-Werden der Arbeit‘ gleichbedeutend mit der Feststellung, dass die Fragmentierung der Bereitschaft von Frauen, ‚zu Diensten zu sein‘, und die Komplexität der Abhängigkeiten wie der Vereinnahmungen, die Frauen zu verschiedenen Zeiten auf dem Arbeitsmarkt erlebt haben, letztendlich zu einem allgemeinen, von Gender unabhängigen Paradigma geworden ist. In diesem Sinn ließe sich behaupten, dass die Gestalt der sozialen Prekarität heute ‚Frau‘ ist: Im kognitiven Kapitalismus werden Prekarität, Mobilität und Fragmentierung konstituierende Elemente der Arbeit aller, unabhängig von ihrem Geschlecht. [2]

Unbeschadet einer noch zu leistenden kritischen Erweiterung, wie wir sie an dieser Stelle nur haben andeuten können, eröffnen die in diesem Band versammelten Beiträge der linken Debatte neues Terrain. Dass eine breite und vielstimmige Diskussion notwendig ist, ist offenkundig, dass in ihr die – bisher gerade im deutschsprachigen Raum kaum zur Kenntnis genommenen –postoperaistischen Beiträge zur Krisendiskussion Gehör finden, hoffen wir. Glauben freilich sollt Ihr den Texten nicht, die Kritik bleibt auch weiterhin der Kopf der Leidenschaften, und wenn die Eindimensionalität traditioneller Krisentheorie-Ansätze etwas aufgelockert würde, hätte das Buch – fürs Erste, für uns – sein Ziel erreicht. Ob und wie den Auswirkungen der Angriffe auf die Multitude der Singularitäten im Rahmen staatlich-kapitalistischer Krisenüberwindung etwas entgegengesetzt werden kann, wagen wir nicht vorherzusagen, die Besinnung auf die Waffen der Kritik dürfte allerdings nicht die allerschlechteste Voraussetzung sein … Soviel – um zur eingangs gestellten Frage zurückzukehren – hat der hoffentlich kommende Widerstand also (zumindest für uns) mit Theorie zu tun.

Entstanden ist das Projekt zur Übersetzung der vorliegenden Texte im Rahmen von Diskussionen der Redaktion der grundrisse.zeitschrift für linke theorie & debatte (Wien) mit GenossInnen in Frankfurt am Main und Bologna. Ohne diese intensive Kooperation wäre der Band nicht zustande gekommen.

Frankfurt a.M., Hegymagas und Wien, im Juli 2010

[1Vgl. dazu Kolya Abramsky (Hg.): Sparking a Worldwide Energy Revolution: Social Struggles in the Transition to a Post-Petrol World, AK Press, Oakland 2010.

[2Cristina Morini, The Feminization of Labour in Cognitive Capitalism, Feminist Review 87, 2007; zitiert nach: Nina Power, The One-Dimensional Woman, Zero Books, Winchester 2009, Seite 22.

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