Streifzüge, Heft 63
März
2015

Die Gewalt des Faktischen

Ein anderer Blick auf einen alten Gegner

Auf dem Spielplatz

Vor der untersten Stufe der breiten Holztreppe des Klettergerüsts steht ein Winzling, keine zwei Jahre alt, und tut − nichts. Über ihm, auf Treppenmitte, hat ein Junge, knapp doppelt so alt und doppelt so groß wie er, den Gang hinunter unterbrochen und starrt ratlos auf das Hindernis, das sich vor ihm auftut. Noch trennen ihn fünf, sechs Stufen von dem Winzling, aber schon hält er inne. Was soll er machen, wenn er unten angekommen ist? Und was macht der Kleine? So absolut gefasst, wie er da steht, weiß man nicht einmal, ob er hinauf will. Schließlich, nach einer unerträglich langen Pause, setzt der Große seinen Weg fort, geht Stufe um Stufe hinunter, den Rücken zurückgelehnt, so als ginge er lieber nicht. Auf der letzten Stufe angekommen, dreht er sich in einer fast tänzerischen Pose, auf den Zehenspitzen und wie in Zeitlupe, um das Hindernis herum, kommt auf dem Boden an und läuft, ohne sich noch einmal umzudrehen, davon: Geschafft, aber nicht gewonnen, dem Sein ein Schnippchen geschlagen, aber nichts dauerhaft geregelt. Der Winzling, mit einem kaum erkennbaren Lächeln, das verrät, dass hier doch weniger ein Sein als eine Strategie im Spiel war, macht sich geruhsam an den Aufstieg und rutscht, oben angekommen und ohne einen Blick nach unten zu werfen, die Rutsche bäuchlings hinunter. Hinterher weiß man’s: Er stand nicht nur da, er wollte hinauf.

Der bergische Fuhrmann

Begegnen sich im Bergischen – so jedenfalls wurde die Geschichte uns Schulkindern im Oberbergischen präsentiert – in einem Hohlweg zwei Fuhrwerke und können nicht aneinander vorbei. „Fahr zurück“, ruft der eine, „du siehst doch, ich komme sonst nicht vorbei“. „Fahr du doch zurück“, ruft der andere. „Ich hab als erster gefragt“, „mein Fuhrwerk ist breiter“, „mein Recht“, „meine Gäule“, so geht es hin und her. Schließlich ruft der eine – oder war es der andere – drohend: „Wenn du nicht auf der Stelle zurückfährst, dann passiert etwas, was du bereuen wirst, etwas Schlimmes, und dann ist es zu spät!“ Eingeschüchtert dirigiert der andere seine Pferde zurück, bis er an eine Stelle gelangt, wo der Weg eine Ausbuchtung hat, so dass sie aneinander vorbeikönnen. „Ich hab ja nun getan, was du wolltest“, ruft er ihm, der geruhsam vorbeirollt, zu, „nun sag mir nur das eine, was hättest du getan, wenn ich mich nicht gefügt hätte?“

Wir Kinder hielten den Atem an.

„Ich hätte dich vorbeigelassen“, ruft der andere und fährt lachend davon.

Wir beneideten ihn um sein Lachen.

Im Görlitzer Park stehen die Dealer und gehen nicht weg!

Es ist die Stunde der Augenzeugen, die wissen, was sie sehen, der Anwohner, die es tagtäglich erleben. Ohnehin ist es die Stunde der Meinungsstarken, die sich auf ihre Anschauungen wie auf ihre Sinne verlassen können. Noch in den Leserbriefspalten der bürgerlichen Zeitungen wimmelt es von einfachen Rezepten. Aber je länger sich die Sache hinzieht, desto mehr geht der Trend hin zu elaborierter Prosa und Poesie, großer Rhetorik, ja ironischen Elogen auf unsere „Brüder im Park“, die sich in der Kälte ein Zubrot und damit unseren Respekt, ja unsere Zuneigung verdienen! Umso mehr wird aufgeboten, je unverhüllter das Paradoxon sich darbietet: Die Dealer müssen weg, und sie tun’s nicht!

Die Rechtslage ist klar, aber das ändert nichts.

Vor dem kruden Faktum entwickeln die Empörten eine Krise, eine Seele, einen – Stil! Auf ihrem Weg in die Sublimierung bieten die Wohlmeinenden ihnen noch Hilfestellung. Sie, die sich als Gutmenschen verhasst machen, als Blinde (gegenüber den Tatsachen) und Blender (auf der Bühne der Demokratie), sind ja beredt. Das, wenigstens, kann man ihnen nicht absprechen. So kann der übliche Kampf der Ideologien stattfinden, wenn auch mit einem Ersatzgegner, mit jemandem, der spricht, wobei die Sache verfehlt, die Fassade der Zivilisation aber aufrechterhalten wird. „Jetzt wird wieder endlos geredet“, sagen die, die ins große Palaver eingestiegen sind, entnervt. Nicht bloß Fassade, ihrer Logik nach, die sich längst auf die Metaebene verschoben hat, wäre: Der Imperativ müsste gelten, die Dealer müssten weg. Aber auch das ist nur eine Art zu sprechen, eine Unterhaltungsform, denn im Irrealis, das geht ja nicht, und sie tun’s ja auch nicht, um’s herauszusagen, sie wollen, dass man ihnen etwas tut! (Dass sie unter Gelächter weichen könnten, der bloße Gedanke, siehe oben, macht schwindlig. Dann könnte man Entsprechendes ja von uns verlangen, o je!) In der wortreichen Auseinandersetzung greift die Überzeugung Platz, dass man mit denen, die stärker als Worte sind, härter als mit Worten verfahren müsste (im irrealen Modus der Unterhaltung: gleich/von Anfang an hätte verfahren müssen). So ergibt sich aus der Spiegelung des Sollens im Sein, auch aus der Spiegelung des Realen im Irrealen ein Überhang von Gewalt in der Vorstellung. Die Faktizität der Gewalt und die Gewalt der Fakten, das wird in der Vorstellung eins.

Vielleicht ist Gewalt ja ein Spiegelungseffekt. Redet soviel ihr wollt, aber lasst die Zivilisation außen vor, möchte man um des lieben Friedens willen verordnen.

Als man noch von Ex-Jugoslawien sprach

Damals geriet eine spezielle Seite des Faktischen ins Bewußtsein: dass man es genauso manipulieren kann wie die Meinung. Steht die Friedenskonferenz vor der Tür, dann nimmt die brutale Auseinandersetzung noch einmal einen Aufschwung. Bislang war jeder Gewinn vorläufig, zumindest ungesetzlich. Jetzt winken Recht und Ordnung. Was man heute in Besitz nimmt, das darf man morgen behalten, wen man heute vertreibt, den kann man morgen beerben.

Komisch, die Gewalt geht vom Frieden aus. Aber worauf soll der sich stützen, wenn nicht auf die Fakten, zumal wenn der Krieg sie geschaffen hat. Geht man vom Recht aus (sofern das möglich wäre), riskiert man Krieg auf einer höheren Ebene, nicht zwischen Haben und Wollen, sondern zwischen Sein und Sollen, und mit all der Härte, die sich aus dem Gefälle, auch aus der Umkehrung der Verhältnisse ergibt. Sollen die, die besiegt sind, Recht bekommen und die andern die Macht behalten? Schlimm genug, wenn aus dem Faktischen Recht wird. Schlimmer noch, wenn jemand demonstriert, dass er die Macht hat zu wissen, was Recht ist. Lieber übt man sich in Pragmatismus und gibt dem Recht, der ohnehin der Stärkere ist. Sein Recht provoziert einfach weniger.

Als Ausnahme von der Regel verstand sich von je der Strafgerichtshof in Den Haag, der dem Recht durch die Aufrechterhaltung der Androhung strafrechtlicher Verfolgung – Aufhebung der Verjährung usw. − das Gewicht eines Faktums zu geben versuchte. Das Problematische an ihm füllt Bände.

Sich wegtragen lassen

1967: Wir haben alles Recht auf unserer Seite, aber wir sind kein Faktum; für die BILD-Zeitung vielleicht, aber nicht für uns. Wir machen eine Anleihe bei den Praktiken des gewaltlosen Widerstands, ohne uns zu fragen, ob wir dazu das Recht haben, und lassen uns wegtragen. Erstaunlich, dass ausgeführt wird, was wir uns ausgedacht haben. Wir haben uns ausgedacht, dass uns etwas zugefügt wird, und es klappt! Das ist eine erotische Erfahrung, kein Zweifel, wie sie aus gemeinsamer Verabredung entsteht. (Hoffentlich vergisst auch die andere Seite nicht, dass wir eine Verabredung haben.) Jemand trägt uns, der Bezug geht von Körper zu Körper, vom eigenen Körper zum Staatskörper; in der Aufregung ist der Mythologisierung keine Grenze gesetzt. Sagenhaft, dass ausschließlich der Körper getragen wird, der Verstand kann sich derweil ein Liedchen trällern. (Hoffentlich trällert der Staat auch.)

Wird man auf diese Weise zum Faktum? Ja und nein. Vielleicht doch eher zur „Sache“, wie Thomas Hettche über die Zwergin sagt (Pfaueninsel, 2014). Wenn z.B. die Berliner Polizeiführung mit dem „Schwarzen Block“ der Autonomen rechnet, als wäre er eine Tatsache, die man ebenso ins Kalkül einbeziehen muss wie die Interessen der Anwohner oder die Stimmung der Öffentlichkeit, dann kann man sagen: Ja. Wenn man aber bedenkt, dass alles am seidenen Faden des entschlossenen Willens hängt – weshalb übrigens die Auflösung-in-aller-Form, die Selbstauflösung, eine in Mode gekommene Erscheinung ist −, dann lautet die Antwort eher: Nein.

Zurück auf dem Spielplatz

„Nun rutsch doch endlich!“, der Ruf genervter Eltern signalisiert, dass die Ordnung in Gefahr ist. Wer oben auf der Rutsche steht, in dessen Position verbinden sich die Funktion der Rutsche und seine eigene Absicht zum Faktischen. Eigentlich befindet er sich in der Pole-Position, kann die synthetische Einheit des Faktischen für sich in Anspruch nehmen. Aber was, wenn es nichts nützt? Wenn sich trotzdem ein Hindernis auftut? Ratlos steht der Kleine oben und blickt auf den Kleinen unten. „… das Kind!“ stammelt er, so als handelte es sich um eine andere Gattung, grundlos böse vielleicht, unvorstellbar stark, überhaupt unvorstellbar. Er kann nicht einmal unterscheiden, was ihn mehr intrigiert: dass es da ist oder dass es nicht weggeht. Am Fuß der Rutsche lümmelt es herum, häuft vertieft Sand auf das Blech oder tut gar nichts. In seiner harmlos-hinterhältigen Art hat es sich das Faktische angeeignet und „dem da oben“ die Ordnung überlassen. „Nun rutsch doch endlich!“ rufen die Eltern, die von ihrem Kind erwarten, dass es zustande bringt, was sie selbst nie schaffen würden: das Recht ins Faktische zurückzuübersetzen, die zersprengten Verhältnisse neu zu vermitteln. Schon fühlen sie den Druck der andern Eltern, beschimpfen ihr eigenes Kind oder heben im Affekt das fremde hinweg. Das könnte sie teuer zu stehen kommen. „Fassen Sie mein Kind nicht an!“

Kinder empfinden nicht den unerbittlichen Zwang der Erwachsenen, etwas Angefangenes zu Ende zu bringen, sie haben nicht diese absolute Hemmung zu weichen. Auch manche Eltern, vom Spielplatz sekundär erzogen, können sich fügen, lassen aber meist die Heiterkeit des bergischen Fuhrmanns dabei vermissen; zu sehr gleicht die Situation auf dem Spielplatz dem realen Leben: „Na, dann rutschst du eben später.“ In dem Moment, in der Regel, trollt sich der Gegner.

Die Gewalt der Vernunft …

Gegen die Gewalt des Faktischen wird die Vernunft mobilisiert. Aber in dem Moment, wo sie mobilisiert wird, ist sie nicht mehr vernünftig. Gegenüber dem Faktischen tritt sie mit dem Anspruch auf eigene Faktizität, als Forderung auf. Sie verweist nicht nur auf die Regeln, sondern will sie auch angewendet wissen. Vor allen Dingen will sie. So verwandelt, erlebt sie sich als ohnmächtige Wut (wie soll sie auch stark sein, wo sie doch Vernunft ist). Nur eins will sie, nicht länger ohnmächtig sein (nicht etwa: wieder vernünftig). Die Macht des Faktischen dagegen erlebt sie als Übermacht; bloß dies, dass es da ist, erlebt sie als Demonstration von Macht. Die eigene Dynamik überträgt sie auf den Gegner: unbesiegbar muss er sein.

Im Glanz der angesonnenen Unbesiegbarkeit wächst das Dasein der Dealer sich zur Nonchalance aus. Je weniger sie reagieren, desto unbesiegbarer werden sie. Allein, dass sie da sind, stellt ein skandalöses Trotzdem dar, das sich nur mit jener Mischung aus Ungeniertheit und blanker Unverschämtheit erklären lässt, für deren Bezeichnung die deutsche Sprache auf das fremde Wort Chuzpe zurückgreifen muss. Aber der Aufwand lohnt sich, schließlich geht es um die Lieblingsphantasmagorie der gehemmten Wut: dass das Recht zur „Witzfigur“ verkommen ist, über das die Dealer sich „locker“ hinwegsetzen.

… und die lautlose Gewalt des Seins: ein Fake

Das wären wir gern: unbesiegbar, weil wir sind, und die Meditationskurse, die uns auf den Teppich unseres Seins zurückbringen sollen, können sich über mangelnden Zuspruch nicht beklagen. Einmal so lachen können wie der bergische Fuhrmann! Die Autorität des Winzlings auf dem Spielplatz ist kein Schein, auch wenn er lediglich nicht an die Folgen denkt, während er für die andern geradezu die Verkörperung der fatalen Folge ist, das, was einen einholt, wenn man sich nicht rechtzeitig vorgesehen hat. Wer mehr als die andern im sogenannten Heute lebt, der ist von der Aura des Seins umgeben. Ins Heute gebannt, ist es freilich das Gegenteil des Seins, wie es den meisten vorschwebt: als, mindestens, Ewigkeit! Wenn in den buddhistischen Anekdoten die Erleuchtung sich durch einen Knall einstellt, dann, weil in diesem Augenblick die Illusion der Ewigkeit zertrümmert wird. Das geht nicht geräuschlos ab.

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