Heft 6/2001
November
2001

Einfach nur zuviel Disziplin

oder von der Manifestation der Gewalt

Denn unter dem Gesichtspunkt der Gewalt, welche das Recht allein garantieren kann, gibt es keine Gleichheit, sondern bestenfalls gleich große Gewalten.
(Walter Benjamin, Kritik der Gewalt, S. 58)

Vorbemerkung

Gewalt, Gewaltverhältnisse gesellschaftlicher, ökonomischer, sexistischer, rassistischer Art durchsetzen die Gesellschaft und strukturieren sie. Diese Gewaltverhältnisse und ihre Manifestationen sind keine sich selbst produzierenden, gleichsam naturwüchsigen, automatischen Prozesse, sondern werden zur Aufrechterhaltung hegemonialer Strukturen (wie auch zur Installierung neuer Verhältnisse) eingesetzt.

Unmittelbarer Entstehungshintergrund der im Sommer produzierten Radiosendung waren die Ereignisse rund um den G8-Gipfel in und um Genua Ende Juli 2001. Der Gipfel, die Gegenkundgebungen, der Tod von Carlo Giuliani, die massive Repression im Vorfeld und nach dem Gipfel, sowie die Verhaftung der Theatergruppe VolxTheaterKarawane waren der Kontext, in dem dieser Beitrag entstand. Die Ereignisse von Genua waren aber nicht unmittelbar Thema dieser Sendung, sondern Ausgangspunkt allgemeinerer Überlegungen zum Phänomen politischer Gewalt. Überlegungen, welche durch den brutalen Gewaltakt am 11. September überrollt, sicher jedoch nicht überholt worden sind.

Die Beschäftigung mit der und Annäherung an die Gewalt war ein Schritt von einer individuellen zu einer kollektiven Auseinandersetzung von vier AutorInnen. Es war auch ein Schritt weg von der Ohnmacht, die nach dem Geschehenen in Genua immer wieder auftauchte, hin zu einer Konfrontation mit dem vielfältigen und widersprüchlichen Phänomen Gewalt. Ebenso wie der Diskussionsprozeß für die AutorInnen der halbstündigen Sendung mit dieser bei weitem noch nicht abgeschlossen oder an einem befriedigenden Punkt angelangt war, kann auch die redaktionelle Überarbeitung für das Papier nicht befriedigend sein und als abgeschlossen gelten.

Es ging den AutorInnen nicht darum, eine Definition von Gewalt zu liefern, da eine solche bei der Vielschichtigkeit und Ambivalenz von Gewalt sinnlos wäre. Sie versuchten vielmehr sich auf verschiedenen Ebenen dem zu nähern, wie politische Gewalt sich äußert und welche Funktionen sie in den unterschiedlichen Kontexten hat.

Manifestation mit Folgen?

Die Rede vom „Gewaltlosen Widerstand“ schwirrt durch die Medien und die politischen Diskurse der Linken. Dass sie ein Widerspruch in sich ist, scheint nicht aufzufallen. Widerstand scheint zwar ein Konsens zu sein; gegen die Globalisierung, die schwarz-blaue Regierung, gegen Rassismus und Sexismus, aber genauso Konsens ist es, diesen Widerstand gewaltlos zu führen. Die These der AutorInnen war, daß die Leute nicht wissen, wovon sie reden, wenn sie das Wort „Gewalt“ oder „Gewaltlosigkeit“ in den Mund nehmen. Gewaltlosigkeit ist eine sinnlose politische Kategorie, mensch kann sagen, sie existiert nicht auf der Ebene der politischen Verhältnisse. Gewalt und Nicht-Gewalt sind hierin nicht voneinander abzugrenzen und schon gar nicht zu definieren oder ausschließlich als physische Akte abzutun. Politische Gewalt existiert. Sie hat zwar keine Essenz, aber sie wird als Mittel und als Ausdruck von Herrschaft und Macht manifest und ist auf verschiedenen Ebenen der politischen Verhältnisse auszumachen. Auf den folgenden drei Ebenen haben die AutorInnen versucht der Manifestation und Äußerung von Gewalt nachzugehen: auf jener der gesellschaftlichen und ökonomischen Verhältnisse, jener der Staatsgewalt und des Rechts (im Sinne von legitimer Macht, gerechtfertigter, gesetzlicher Autorität) und auf jener des politischen Widerstandes.

Die Ebene der gesellschaftlichen und ökonomischen Verhältnisse

Hier wäre es wahrscheinlich besser, anstelle von Gewalt vom „stummen Zwang der Verhältnisse“ oder von einer konsensualen Macht zu sprechen. Macht basiert nicht nur auf Repression, auf Geboten und Verboten, sondern wird heute weitaus stärker über soziale Strukturen oder internalisierte Normen vermittelt. Zusätzlich gibt es nicht nur die Mächtigen auf der einen und die Ohnmächtigen auf der anderen Seite, da die Vielfalt der Machtquellen und die eigene Involviertheit in das System der Macht keine solche eindeutige Zuordnung erlaubt. Das gesellschaftliche und ökonomische System wird durch unser permanentes Handeln reproduziert. Diese Ausformung von Gewalt ist meistens nicht offensichtlich, sie tut auch nicht unmittelbar weh, aber sie wirkt nachhaltiger, weil sich unser Leben danach ausrichten muß. Es gibt niemanden, der diese Gewalt ausübt bzw. alle üben sie aus. Fast alle müssen zumindest die Hälfte ihrer Wachzeit fremdbestimmt leben — als LohnarbeiterInnen. Wir müssen einkaufen gehen. Wir bedienen permanent unser geschlechtsspezifisches Rollenbild. Wir müssen zusehen, wie Leute abgeschoben, wie Leute inhaftiert werden, wie Recht im Namen einer Gerechtigkeit gesprochen wird. Die meisten wollen auch nicht anderes, als dabei nur zu zusehen. Es ist gesellschaftlicher Konsens der Ausbeutung, Unterdrückung und Erniedrigung nicht zu widerstehen, denn diese werden als Normalität aufgefaßt und sind im Bewußtsein der Menschen meistens keine Gewalt.

Gewalt wird also nicht nur direkt vom Staat und untergeordneten Institutionen oder von Personen/Gruppen ausgeübt, sondern hat sich in die jeweiligen Subjekte selbst hineinverlagert. Diesen Prozeß benennt Michel Foucault als Entstehen der modernen Disziplinargesellschaft. Die Disziplinargesellschaft funktioniert — vereinfachend ausgedrückt — so, daß durch das Instrument der Normalisierung alles nicht der Norm Entsprechende als anders, deviant und kriminell gilt. Die Normalisierung selbst, wie auch die hierbei angewandten Techniken der Sanktionierung und der Disziplinierung sind nicht mehr allein mit physischer Gewalt faßbar. Aus diesem Grund ist ein Gewaltbegriff, der Gewalt ausschließlich auf rein physische Gewalterfahrungen reduziert, für die Beschreibung und Analyse moderner und komplexer Normalisierungsmechanismen nicht ausreichend.

Etwas von dieser Verlagerung der Kontrollinstanzen in das Individuum hinein wird im Begriff Subjekt deutlich. Das Wort Subjekt ist von — griechisch — Subjektion abgeleitet, was die Bedeutung von Selbständigkeit aber auch von Unterwerfung beinhaltet. Subjekt meint also den Prozess der Unterordnung durch Macht als auch den Prozess der Subjektwerdung. Einerseits unterwerfen wir uns dem Zwang gesellschaftlicher Verhältnisse, andererseits sind wir als Subjekte sehr wohl handlungsfähig und müssen den gesellschaftlichen Verhältnissen nicht ohnmächtig gegenüber stehen und in diesem Spannungsverhältnis bewegt sich widerständige politische Praxis.

Die Ebene der Staatsgewalt und des Rechts

(im Sinne von legitimer Macht, gerechtfertigter, gesetzlicher Autorität)

Walter Benjamin untersuchte 1921 das Phänomen der auf Recht basierenden Gewalt in seinem Aufsatz Zur Kritik der Gewalt (Benjamin W., Frankfurt a.M., 1965). Eine vorherrschende Form der Gewalt, die wir täglich erfahren, ist eng mit dem Recht verbunden und dient zwei Funktionen: einerseits der rechtsetzenden — begründenden -und andererseits der rechtserhaltenden Funktion, die das geltende Recht bestätigt und dessen Fortdauer und Anwendbarkeit sichert. Die verschiedenen Staatsapparate (die Gerichte, das Parlament, die Regierung, die Polizei, die Armee etc…) sind an einer dieser Funktionen oder an beiden beteiligt. Die Polizei beispielsweise kann nicht nur physische Gewalt in Form von Körperverletzung und Mord, wie bei den Demonstrationen in Genua ausüben, sie hat die Funktion, die gesellschaftliche Ordnung zu erhalten und ist insofern rechtserhaltend; durch ihre Anwesenheit aber auch in ihrer Abwesenheit, also durch ihre pure Existenz. Die Polizei ist immer dort anwesend, wo Gesetzeskraft existiert. Die Polizei wird auch zur rechtsetzenden Gewalt: dann jedes Mal, wenn herrschendes Recht zu erhalten ist, jedoch dieses Recht unbestimmt im Detail ist und der Polizei somit die Möglichkeit eingeräumt wird, Recht zu setzen, „nach eigenem Ermessen zu handeln“.

Der Staat bzw. die Rechtsordnung gilt als alleinige Quelle des Rechts auf Gewaltsamkeit. Individuelle Gewalt, die die Rechtsordnung und Rechtsordnungen bedroht, soll ausgeschlossen werden. Das Recht, dessen ErfinderInnen und ExekutorInnen müssen also Gewalt monopolisieren. Dieses Monopol tendiert nicht dazu, dieses oder jenes Gesetz in Schutz zu nehmen, sondern dazu, das Recht, das System selbst zu schützen. Es fördert legale und richtet sich gegen „illegale“ Gewalt. Gewaltsamkeit gilt nur insofern als legal, als die staatlichen Gewalten sie tolerieren, genehmigen, vorschreiben. Gewalt muß hier nicht unbedingt als physisch ausgeübte verstanden werden. Durch die Gewalt des Rechts kann das Recht selbst über die Legalität von Gewalt entscheiden und kann all jenes als gewaltsam (ungesetzlich) bezeichnen, was es nicht anerkennt. Vor zwei Jahrhunderten ahnte mensch schon, daß mit viel schlechtem oder gutem Willen, staatliche Gewalt sich immer gegen das Individuum richten kann, somit wurde in den sich damals entwickelnden westlichen Demokratien eine Gewaltenteilung zwischen den verschiedenen staats- und gesellschaftstragenden Institutionen festgeschrieben. Doch hat sich schon oft genug, wenn es die Situation provozierte und erforderte, die Grenze zwischen Exekutive, Legislative und Judikative bis zum Verschwinden der gegenseitigen Kontrollmechanismen aufgelöst.

Es gibt viele Formen von Gewalt, die dem Staat entgegenstehen oder Ziele durchzusetzen versuchen, die sich von den staatlichen unterscheiden. Diese Formen von Gewalt tendieren dazu Recht zu setzen, indem sie das geltende Recht zerstören. Die rechtserhaltende Gewalt wehrt sich generell gegen rechtsetzende Gewalt, die außerhalb der eigenen Normen steht und imstande ist, veränderte, neue Strukturen zu legitimieren. Walter Benjamin dazu: „Alle Gewalt ist als Mittel entweder rechtssetzend oder rechtserhaltend. Wenn sie auf keines dieser Prädikate Anspruch erhebt, so verzichtet sie damit selbst auf jede Geltung.“ (Benjamin, S. 45) Gewalt entsteht somit aus Konkurrenz zwischen aktueller Norm und Abnorm und aus dem Streben nach Macht, wie sie von Hannah Arendt definiert wurde: „Macht entspricht der menschlichen Fähigkeit, nicht nur zu handeln oder etwas zu tun, sondern sich mit anderen zusammenzuschließen und im Einvernehmen mit ihnen zu handeln. […] Wenn wir von jemanden sagen, er“habe die Macht„, heißt das in Wirklichkeit, daß er von einer bestimmten Anzahl von Menschen ermächtigt ist, in ihrem Namen zu handeln.“ (Macht und Gewalt, 2000, S.45.)

Die Ebene des politischen Widerstandes

Gewalt ist im Kontext des Widerstandes, so wie ihn die GegnerInnen der neoliberalen Globalisierung in Genua und sonstwo gezeigt haben, am schwierigsten zu fassen. Bei dieser Gewalt kann nicht von der Gewalt der Verhältnisse, von der Autorität des Staates oder auch von einer logistisch-militärischen Stärke gesprochen werden, sie ist eher eine symbolische Machtdemonstration und manifestierte Gegen-Gewalt. Kann mensch überhaupt bei den Übergriffen, welche sich gegen Räumpanzer und mit scharfer und Tränengasmunition ausgerüsteter und schießender Polizei richtet, von „Gewalt“ von seiten der DemonstrantInnen sprechen? Nivelliert die Gleichbezeichnung der Polizeigewalt und der Gewalt, die von den DemonstrantInnen ausgeht diese beiden Formen von Gewalt auf gleicher Ebene?

Ob bewußte Brüche der hegemonialen Legalität in der politischen Aktion sinnvoll sind oder nicht, hängt von verschiedenen Faktoren ab, wie dem Rückhalt in oder der Ermächtigung einer „Bewegung“, der Vermittelbarkeit der Aktion, den Effekten ihrer medialen Repräsentation, der unmittelbaren Erreichbarkeit eines bestimmten Ziels und schlußendlich des Aktes neuer Rechtsetzung. Ob Legalitätsbrüche per se Gewalt darstellen, verneinen die AutorInnen, denn es kommt nicht nur auf die Art des Legalitätsbruches an, sondern auch auf die Gewaltigkeit im Sinne der Machtdemonstration der AktivistInnen. Wenn ein Einzelner eine Scheibe einschlägt ist das nicht wirklich eine gewaltige Machtdemonstration (außer es war ein Polizeispitzel, ein agent provocateur), wenn es allerdings zu einer kollektiven Handlung kommt, selbst wenn sie gesetzlich erlaubt ist, kann schon von gewaltiger Machtdemonstration, von Gewalt gesprochen werden. Und auch den sogenannten gewaltlosen Störungen haftet immer das Gewaltsame an. Denn Aktionen, die darauf abzielen, bestimmte Prozesse lahmzulegen — den Verkehr auf der Straße, den Unterricht an Universitäten, Lohnarbeit durch Streik — bedienen sich physischer Gewalt, schon alleine weil sie den Rhythmus des Alltags unterbrechen. Auch Gegen-Gewalt ist als Gewalt wahrzunehmen, ohne allerdings die Staatsgewalt, die Gewalt der nach Macht strebenden Gruppen und die Gewalttätigkeit der gesellschaftlichen und ökonomischen Verhältnisse zu verharmlosen oder sie damit zu vergleichen.

Durch diese Einsicht soll einerseits Gegen-Gewalt kritikfähig gemacht werden und andererseits mensch sich der eigenen Handlungsoptionen bewußt sein und diese als möglicherweise machtvolle Gegen-Gewalt ausmachen können, ohne am „stummen Zwang der Verhältnisse“ und der Disziplinierung als Subjekt scheitern zu müssen.

Basierend auf einem von Economy Class verfassten Skript für das Radio, überarbeitet von Alexander Schürmann-Emanuely.

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