Streifzüge, Heft 61
Juni
2014

Ende der Geschichte?

Die Apokalypse wurde schon unzählige Male verkündet. So betrachtet ist sie ein alter Hut. Neu ist die spezifische Form voyeuristischer Katharsis, mit der sie in den letzten zwei bis drei Jahrzehnten inszeniert wird. Sie wird nicht länger gefürchtet, als Machtinstrument benutzt oder in religiöse Systeme gebettet – sie wird ersehnt. Erst Ende des Jahres 1999 zerbrachen wir uns noch die Köpfe, was wohl die russischen Atomraketen anstellen könnten, wenn die veralteten Steuerungsrechner es nicht schaffen würden, auf 2000 umzuspringen, und 2012 fieberten wir dem von den Mayas prophezeiten Weltuntergang entgegen. Die Kino-Blockbuster der letzten fünfzehn Jahre gehen über diesen Flirt mit der eigenen Vernichtung noch weit hinaus, indem sie den kollektiven Tod als Spektakel inszenieren. Typische Exponenten sind Filme wie Deep Impact, Independence Day, Emmerichs 2012 oder nun der neue Godzilla. Interessant ist dabei vor allem die schleichende Veränderung des Plots. Schrappte die Menschheit in älteren Filmen wie Deep Impact, Armageddon oder Independence Day noch knapp an der Vernichtung vorbei, indem sich Einzelne heldenmütig für sie opferten, scheint dieses Opfer in vielen neueren Filmen entweder sinnlos oder keiner Mühe wert zu sein. So kann beispielsweise im Film Cloverfield nichts gegen den unwillkommenen Besucher aus dem All unternommen werden, gehen in Terminator 3 die Atomraketen wirklich hoch und ist die ökologische Katastrophe in 2012 durch nichts zu bekämpfen.

Zeit und Entfremdung

Damit stellt sich heute, kulturell betrachtet, eine neue Frage: Wie ist die aufkeimende Faszination für die eigene Vernichtung zu erklären? Walter Benjamin schrieb im Nachwort zu seinem Aufsatz „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“: „‚Fiat ars – pereat mundus‘ sagt der Faschismus und erwartet die künstlerische Befriedigung der von der Technik veränderten Sinneswahrnehmung (…) vom Kriege. Das ist offenbar die Vollendung des l’art pour l’art. Die Menschheit, die einst bei Homer ein Schauobjekt für die Olympischen Götter war, ist es nun für sich selbst geworden. Ihre Selbstentfremdung hat jenen Grad erreicht, der sie ihre eigene Vernichtung als ästhetischen Genuss ersten Ranges erleben lässt.“

Der Aufsatz entstand 1935 im Pariser Exil. Einerseits hatte Benjamin Erinnerungen an die Schrecken des Ersten Weltkrieges im Gedächtnis, andererseits sah er in den Massenaufmärschen der Nationalsozialisten und der militärischen Disziplinierung der Gesellschaft bereits den neuen Krieg am Horizont erscheinen. So verführerisch die These mit Blick auf den Nationalsozialismus ist, so erscheint sie, aus dem Abstand von 80 Jahren betrachtet, heute historisch fraglich. Was die Menschen am Krieg bejubelten, war weniger ihre Selbstvernichtung, vor der sie zum Ende des Krieges panische Angst zeigten und dann zu reuigen Demokraten konvertierten. Es war vielmehr die Aussicht, den Krieg zu gewinnen und den bislang theoretischen Anspruch, das Herrenvolk zu verkörpern, in die Praxis umzusetzen. Der Krieg konnte ästhetische Schönheit und zusammen mit ihr Genuss nur so lange entfalten, wie er als bereits gewonnen galt. Sobald die Wochenschau keine glaubhaften Erfolgsmeldungen mehr zu senden hatte, war die Freude am schönen Bild dahin. Die Selbstvernichtung wird erst im modernen Kapitalismus zum libidinös besetzten Spektakel, was der These Benjamins große Tragweite verleiht und uns nötigt, die Frage zu stellen, auf welche Form der Selbstentfremdung die allerorten inszenierte Apokalypse zurückgeht.

Ein wichtiger Hinweis liegt im Wesen der Apokalypse selbst. Sie ist der große Zusammenbruch, der laute Knall oder der Aufmarsch zum letzten Gefecht, der am Ende einer langen Geschichte steht und ihren Abschluss bildet. Sie verweist damit auf die Zeit und die Rolle menschlichen Handelns im Rahmen ihrer Gestaltung.

Was unsere Vorstellung von der Zeit bislang dominiert hat, war die Überzeugung, sie verlaufe als ein von der Vergangenheit über die Gegenwart in Richtung Zukunft weisender Fluss, der eine fortwährende Weiterentwicklung des menschlichen Zusammenlebens mit sich bringt. Die Geschichte schreitet voran, schneller, wenn die Menschen viele Freiheiten genießen, langsamer, je stärker sie ins Räderwerk gespannt sind – aber es geht vorwärts, und schließlich wird alles gut.

Ende statt Fortschritt

In seinem berühmten Aufsatz „The End of History“ vertrat Francis Fukuyama eine dezidierte Gegenposition zu diesem linearen Zeitkonzept. Fukuyama argumentiert wie folgt: In der Sowjetunion hat Gorbatschow durch Glasnost und Perestroika eine Politik eingeleitet, die den Marxismus-Leninismus hinter sich lässt, der bis dahin als ideologische Rechtfertigung des Systems gedient hat; in China hat die westliche Konsumkultur Fuß gefasst, und die kommunistische Partei schwenkt auf einen zusehends liberaleren wirtschaftspolitischen Kurs ein; die Klassenfrage hat sich innerhalb des westlichen politischen Systems als lösbar erwiesen; der Faschismus hat sich durch die Verluste im Zweiten Weltkrieg ebenso ins politische Aus manövriert wie der im absoluten Debakel geendete Nationalsozialismus; und schließlich besitzen weder die Religion noch der Nationalismus heute noch genügend Anziehungskraft, um eine Herausforderung für die politischen Systeme des Westens darzustellen. Auf der Bühne bleibt nur der Liberalismus zurück, und sein Sieg ist uneingeschränkt: Weder kann ihm eine Ideologie noch gefährlich werden, noch geht er – wie viele seiner Gegner behaupten – mit Widersprüchen schwanger, die ihn über kurz oder lang zum Untergang verurteilen. Hegel und sein berühmter Interpret Kojève hatten Recht: Mit der Schlacht von Jena im Jahre 1806 und der Durchsetzung der zentralen Werte der Französischen Revolution und der Aufklärung ging die Geschichte in die Schlussgerade. Spätestens heute ist es klar: Die Geschichte ist vorbei!

Es gibt zwei Missverständnisse der Thesen Fukuyamas: Das erste besteht in der Annahme, Fukuyama habe die Behauptung aufgestellt, das Ende der Geschichte bestünde in der Durchsetzung liberaler Systeme überall auf der Welt, was langsam aber sicher in eine Ära des Friedens und der politischen Ausgeglichenheit führen würde. Ganz im Gegenteil betont er, nach wie vor würde es gewalttätige und kriegerische Auseinandersetzungen geben, nur gibt es eben keine Konflikte mehr, die den Liberalismus als Idee in Frage stellen. Wo Marx als Materialist behauptete, das gesellschaftliche Sein würde das Bewusstsein und die Welt der Ideen bestimmen, beharrt Fukuyama als Hegelianer auf dem Primat der Idee gegenüber der materiellen Welt. Das Ende der Geschichte bedeutet nach Fukuyama die endgültige Durchsetzung einer Idee, die konkurrenzlos geworden sei, da alle Alternativen versagt hätten oder langsam zu ihr konvertierten. Mit dem Ende von Konflikten habe dies nichts gemeinsam und ebenso wenig mit einer Welt, in der es sich besser leben ließe als in einer der vorherigen.

Triste Unendlichkeit

Und hier liegt das zweite Missverständnis. Wenn Fukuyama das Ende der Geschichte und den finalen Sieg des westlichen Liberalismus verkündet, sehen viele Menschen darin eine frohe Botschaft, weil wir nun endlich die leidige Systemkonkurrenz los sind, weil wir wissen, was wir politisch zu tun haben, und vor allem sicher sein können, das Richtige zu tun. Schwang in Vietnam noch das schlechte Gewissen mit, weil die Geschichte auch dem Kommunismus Recht hätte geben können, ist von solchen Vorbehalten in Afghanistan und dem Irak nicht mehr die Rede, weil wir endlich wissen, dass wir im Recht sind. Fukuyama sah dies deutlich anders.

Das Ende der Geschichte wird eine sehr traurige Zeit sein. Der Kampf um Anerkennung, die Bereitschaft, sein Leben für ein abstraktes Ziel aufs Spiel zu setzen, der weltweite Kampf der Ideologien, der Mut, Kühnheit, Vorstellungskraft und Idealismus vorantrieb, wird durch ökonomische Kalkulation ersetzt werden, durch das endlose Lösen technischer Probleme, ökologischer Sorgen und die Befriedigung anspruchsvoller Konsumentenbedürfnisse.

(Übersetzung: Lars Distelhorst)

Fukuyama ist keineswegs begeistert vom Ergebnis seiner Analyse und sonnt sich auch nicht im Triumph. Vielmehr kommt er der düsteren Position sehr nahe, die Jean Baudrillard vertrat, als er die provokante These aufstellte, das Jahr 2000 würde nicht stattfinden, weil die Zeit sich in immer kleinere Intervalle auflösen würde, zu endlosen Wiederholungen und Spaltungen verdammt, ohne je einen wirklichen Fortschritt zu machen, wie Achilleus in der Parabel vom Wettlauf mit der Schildkröte. Das Interessante an dieser Übereinstimmung ist die radikale Unterschiedlichkeit der beiden Denker. War Fukuyama, als er seinen Aufsatz schrieb, noch ein Vertreter des Neokonservatismus, einer der konservativsten US-amerikanischen Denkströmungen, galt Baudrillard als radikaler Kritiker der Postmoderne. Wenn zwei so verschiedene Geister in von unterschiedlichen Ausgangspunkten anhebenden Gedankengängen zu derart dicht beieinander liegenden Schlussfolgerungen gelangen, legt dies die Vermutung nahe, das diagnostizierte Problem könnte zutreffen.

Folgt man beiden, hat sich die Zeit gegenüber der zuvor beschriebenen linearen Zeitlichkeit wesentlich verändert. Verlief sie vorher in Form einer geraden, aufsteigenden Linie, nimmt sie nun die Form einer Asymptote an, die zwar Raum für Geschehnisse lässt, da sie nie den höchsten Punkt trifft, jedoch in unendlich langsamem Fortschreiten, unendlich langsamer Näherung an ein niemals gänzlich realisiertes Ziel den Platz zum Handeln nimmt und das menschliche Leben zu Wiederholung und Trivialität verdammt.

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