Streifzüge, Heft 30
März
2004

Mehrwert und Verwertung

Ausführungen zum Okkultismus der Ware Arbeitskraft

Er spukt also wieder in den Hirnen, und er war auch nie ganz draußen. Gemeint ist der Mehrwert, jene Größe, um die es eigentlich gehen soll. Unsere Aufgabe besteht nun darin, die Mehrwertkritik in ihre Schranken zu weisen, sie bloß als das gelten zu lassen, was sie ist, ein integrierter Bestandteil der Wertkritik, nicht ihre Gegensetzung. Wird sie als diese verstanden und gar zum Zentrum der Gesellschaftskritik aufgeblasen, dann ist sie als eine Form verkürzter Kapitalismuskritik zu interpretieren, deren Implikationen alles andere als unproblematisch sind.

Mit Alfred Sohn-Rethel betrachten wir den Zusammenhang von Wert und Mehrwert wie folgt: „Denn damit die Produktion Mehrwert erzeuge, wird offenbar vorausgesetzt, dass die Produkte die Wertform haben, und das eigentliche Problem des Mehrwerts liegt daher nicht in der Produktion, sondern in dieser Wertform der Produkte. Nur weil der Produktion im Kapitalismus das Wertgesetz auferlegt ist, macht die Seinswirklichkeit der Produktion sich gerade gegen die Wertform durch den Widerspruch des Mehrwerts geltend. Was wir daher allein überhaupt analysieren können, ist immer nur die Wertform und ihr Ursprung.“ (Soziologische Theorie der Erkenntnis (1936), Frankfurt am Main 1985, S. 110) Analytisch ist es nur so zu fassen: Nicht der Wert hat im Mehrwert ein äußeres Problem, sondern der Mehrwert ist zweifellos eine durch den Wert gesetzte Kategorie. Mehrwert ist bloß MehrWert; ein Komparativ ohne selbständigen Charakter und unabhängige Qualität. Ein Schlüssel zum Kapital mag im Mehrwert liegen, aber der Schlüssel zum Mehrwert liegt im Wert.

1.

Mehrwert kann ohne Wert nicht gedacht werden. Jener ist eine abgeleitete Größe, ein Aspekt desselben, nichts Eigenständiges, schon gar nicht das, was die kapitalistischen Gesellschaftsverhältnisse definiert. Der Mehrwert ist auch nichts, was den Wert verzerrt, sondern etwas, das diesen hinsichtlich der Vernutzung menschlicher Arbeitskraft zum Ausdruck bringt. Nicht der Wert der menschlichen Arbeit ist einzufordern – denn der Wert der menschlichen Arbeitskraft wird sowieso bezahlt –, sondern Verwertung als auch In-Wert-Setzung menschlicher Tätigkeiten sind kategorisch zu verwerfen.

Akkumulation meint „Kapitalisierung von Mehrwert“ (MEW 24: 326). Die Verwertung ist jener Prozess, in dem das konstante Kapital sich Mehrwert einsaugt, aus GG‘ wird. Verwertung ist aber mehr und weniger als Mehrwert. Mehr meint jene, weil der gesamte Prozess der Akkumulation damit gekennzeichnet wird, weniger meint sie, weil nicht der gesamte Mehrwert verwertet wird, sondern nur der abzüglich des Konsums der Kapitaleigner. „Ein Teil des Mehrwerts wird vom Kapitalisten als Revenue verzehrt, ein anderer Teil als Kapital angewandt oder akkumuliert.“ (MEW 23: 617-618)

Die Kategorien Mehrwert und Verwertung dürfen nicht verwechselt werden, sie bedeuten jeweils Unterschiedliches. Letztere meint den Prozess der Kapitalbildung, ersterer den Zusatz, der diese ermöglicht. Zurecht schreibt Moishe Postone: „Marx analysiert den Verwertungsprozess – den Prozess der Schaffung von Mehrwert – als Prozess der Schaffung von Wert.“ (Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft. Eine neue Interpretation der kritischen Theorie von Marx, Freiburg 2003, S. 464)

Karl Marx bezeichnet daher den Wert als „automatisches Subjekt“ (MEW 23: 169): „In der Tat aber wird der Wert hier das Subjekt eines Prozesses, worin er unter dem beständigen Wechsel der Formen von Geld und Ware seine Größe selbst verändert, sich als Mehrwert von sich selbst als ursprünglichem Wert abstößt, sich selbst verwertet. Denn die Bewegung, worin der Mehrwert zusetzt, ist seine eigne Bewegung, seine Verwertung also Selbstverwertung. Es hat die okkulte Qualität erhalten, Wert zu setzen, weil er Wert ist.“ (Ebenda) Mehrwert ist nichts anderes als das Repellieren und Attrahieren des Werts selbst. Von sich, zu sich, aber immer aus sich. „Das Produkt der kapitalistischen Produktion ist nicht nur Mehrwert, es ist Kapital. Kapital ist, wie wir sahen, G-W-G‘, sich selbst verwertender Wert, Wert, der Wert gebiert.“ (Karl Marx, Resultate des unmittelbaren Produktionsprozesses, Archiv sozialistischer Literatur 17, Frankfurt am Main 1969, S. 84)

Ziel des Kapitals ist also die „Verwertung des Werts“ (MEW 23: 167), dass aus Wert mehr Wert (nicht: Mehrwert!) wird, G-W-G‘. Der Mehrwert ist aber das Inkrement, das diese Verwertung ermöglicht, das garantiert, dass hinten mehr rauskommt als vorne reingesteckt wurde, dass der Kostpreis der Ware (c+v) geringer ist als der Wert der Ware (c+v+m). Der Mehrwert ist das Inkrement der Verwertung, aber m ist nicht G‘, sondern lediglich Dv, das dafür sorgt, dass am Ende nicht bloß wieder G erscheint. Würde der Wert der Ware dem Kostpreis entsprechen, wäre überhaupt keine Akkumulation von Kapital möglich. „Die Formel G… G’ist also charakteristisch, einerseits, dass der Kapitalwert den Ausgangspunkt und der verwertete Kapitalwert den Rückkehrpunkt bildet, so dass der Vorschuss des Kapitalwerts als Mittel, der verwertete Kapitalwert als Zweck der ganzen Operation erscheint; andrerseits, dass dies Verhältnis in Geldform ausgedrückt ist, der selbständigen Wertform, daher das Geldkapital als Geld heckendes Geld.“ (MEW 24: 63)

2.

Der Schlüssel zum Mehrwert liegt darin, dass es eine „Differenz zwischen dem Wert und der Verwertung des Arbeitsvermögens“ (MEW 26.1: 13-14) gibt. Der Lohn des Arbeiters deckt den Wert seiner Arbeitskraft, die jedoch als lebendige Arbeit mehr Wert bildet, als ihre Arbeitskraft gekostet hat. Der Wert der Arbeitskraft ist kleiner als das von ihr erzeugte Wertprodukt. „Der Wert der Arbeitskraft und ihre Verwertung im Arbeitsprozess sind also zwei verschiedne Größen. Diese Wertdifferenz hatte der Kapitalist im Auge, als er die Arbeitskraft kaufte.“ (MEW 23: 208) „Vergleichen wir nun den Wertbildungsprozess und Verwertungsprozess, so ist der Verwertungsprozess nichts als über einen gewissen Punkt hinaus verlängerter Wertbildungsprozess. Dauert der letztre nur bis zu dem Punkt, wo der vom Kapital gezahlte Wert der Arbeitskraft durch ein neues Äquivalent ersetzt ist, so ist er einfacher Wertbildungsprozess. Dauert der Wertbildungsprozess über diesen Punkt hinaus, so wird er Verwertungsprozess.“ (MEW 23: 209)

Marx noch deutlicher: „Die in den Produktionsmitteln bereits enthaltene Arbeit ist dieselbe wie die neu zugesetzte. Sie unterscheiden sich nur dadurch, dass die eine vergegenständlicht ist in Gebrauchswerten und die andre im Prozess dieser Vergegenständlichung begriffen, die eine vergangen, die andre gegenwärtig, die eine tot, die andre lebendig, die eine vergegenständlicht im Perfektum, die andre sich vergegenständlichend im Präsens ist. Im Umfang, worin die vergegenständlichte Arbeit lebendige ersetzt, wird sie selbst ein Prozess, verwertet sie sich, wird sie ein Fluens, das eine Fluxion schafft. Dieses ihr Einsaugen zusätzlicher lebendiger Arbeit ist ihr Selbstverwertungsprozess, ihre wirkliche Verwandlung in Kapital, in sich selbst verwertenden Wert, ihre Verwandlung aus einer konstanten Wertgröße in eine variable und prozessierende Wertgröße. Allerdings kann diese zusätzliche Arbeit nur in der Gestalt konkreter Arbeit und daher den Produktionsmitteln nur in ihrer spezifischen Gestalt als besonderen Gebrauchswerten zugesetzt werden und wird auch der in diesen Produktionsmitteln enthaltene Wert nur durch ihren Konsum als Arbeitsmittel durch die konkrete Arbeit erhalten.“ (Karl Marx, Resultate, S. 21-22. )

Der spezifische Gebrauchswert der Ware Arbeitskraft liegt darin, dass sie als Arbeit im Produktionsprozess mehr Wert erzeugt als sie in der Zirkulation kostete. Das Geheimnis lässt sich so ausdrücken: Die Konsumtion des Gebrauchswerts der Arbeit durch das konstante Kapital erzeugt mehr Tauschwert als diese zuvor hatte. Gekauft wird diese Ware ob ihres eigentümlichen Gebrauchwerts mehr Tauschwert abzuwerfen als sie gekostet hat. „Wie den Warenbesitzer der Gebrauchswert der Ware nur als Träger ihres Tauschwerts interessiert, so den Kapitalisten der Arbeitsprozess nur als Träger und Mittel des Verwertungsprozesses.“ (Marx, Resultate, S. 38)

Mit jeder Ware wird etwas gekauft, das produziert wurde und via Markt für die Konsumtion freigegeben wird. Im Prinzip trifft das auch auf die Ware Arbeitskraft zu. Nur: In der Ware Arbeitskraft wird etwas getauscht, das zwar produziert wurde, aber in futurum noch produzierend tätig wird. Die Ware Arbeitskraft ist die einzige, bei deren Konsum Tauschwert und Gebrauchswert nicht untergehen, sondern neu erschaffen werden und nicht bloß als Reproduktion, sondern als Zusatz, durch produktive Arbeit. Im Gegensatz zu jedem anderen Produkt toter Arbeit ist die Arbeitskraft tote Arbeit, die lebendige Arbeit emaniert, somit etwas Produziertes Produzierendes. Sie ist das Fertige, das weiter fertigt. Das ihr Vorausgesetzte setzt mit dem Tausch nicht aus, sondern es setzt nochmals ein. Das natürlich ist Okkultismus pur.

3.

Interessenslagen sind komplizierter, nicht so eindeutig, wie man allgemein annimmt. Den einzelnen Arbeiter interessiert am Wert seiner Ware Arbeitskraft in erster Linie einmal die Höhe des Lohnes; je mehr er erhält, desto mehr kann er sich leisten, desto gesellschaftsfähiger ist er. Gleichzeitig interessiert ihn aber an der Höhe der zu bezahlenden Preise das andere Extrem, sie sollen niedrig sein. Da die Preise aber nichts anderes sind als transformierte Löhne, ist er indirekt für niedrige Löhne. Was meint: Er darf jenen nicht gönnen, was er selbst haben will. Darin liegt der Grundfunke der Konkurrenzsubjektivität, wir könnten durchaus von einem mentalen (wenn auch gesellschaftlichen) Apriori unserer Seele sprechen, dem wir uns praktisch kaum entziehen können. Solche fundamentale Widersprüche hausen also im einzelnen Produzenten wie im einzelnen Marktteilnehmer selbst. Bürgerliche Gesellschaftlichkeit bedeutet den Bestand anderer zu gefährden um selbst bestehen zu können.

Den Kapitalisten hingegen interessieren am Preis seiner Waren primär Rate und Masse des Mehrwerts, die er sich anzueignen versteht, er will den Mehrwert steigern, nicht den Wert, im Gegenteil, Tauschwert und Preis als dessen letzte Formen möchte er im Normalfall senken. Er will den Arbeitslohn niedrig halten, andererseits muss er aber auch dafür Sorge tragen, dass die Beschäftigten die hergestellten Produkte bezahlen können. Puncto Arbeitskraft will er billig einkaufen (aber auch nicht zu billig); Produkte und Leistungen wiederum möchte er ebenfalls so teuer als möglich und so billig als möglich verkaufen. Auf dieser Ebene blühen Kalkulation und Spekulation, ebenso immanentes Rüstzeug und nicht unfreundliche oder gar externe Beigabe.

Und man kann die Sache noch weiterspinnen: Einerseits ist der Besitzer der Ware Arbeitskraft interessiert, dass sein v groß ist, andererseits muss er aber auch mittelbares Interesse haben, dass Profite (= realisierte Mehrwerte) gemacht werden, denn ohne m gibt es keine funktionierende Akkumulation, somit auch keinen Investitionsspielraum, somit auch keine Möglichkeiten den Kostpreis zu senken und in der Konkurrenz bestehen zu können, somit auch keine Arbeitsplätze, also kein v. Man kann es drehen und wenden wie man will: Konstantes wie variables Kapital, c wie v sind elementar an die Akkumulation gebunden. Sie backen den gleichen Kuchen, Ware genannt, aber sie streiten um die Stücke, Klassenkampf geheißen. In C konzentriert sich ihr gemeinsames Interesse, in c:v:m das jeweilige spezielle Interesse. Aber letztlich ist es ein Ritual, ein Tanz um das goldene Kalb des Werts, dem alles geopfert wird, das selbst aber ein Tabu darstellt.

Würden die Arbeiter 20 Prozent mehr Lohn erhalten, wäre ihre soziale Lage nicht verbessert, und nicht nur weil die Preise dann um 20 Prozent ansteigen würden. Sonst bräuchte man ja wirklich bloß Geld zu drucken und zu verteilen. Aber gesetzt den irregulären Fall, die Preise würden nicht steigen, die irreale Umverteilung wäre real möglich, dann würde die Investitionstätigkeit des Kapitals rapide absinken, da ja die nötige Profitmasse, um ökonomisch als Unternehmen bestehen zu können, nicht mehr vorhanden wäre. Fazit: Die immanenten Schranken des Klassenkampfs sind nicht zu durchbrechen. Werden sie aber durchbrochen, wäre es kein Klassenkampf mehr.

4.

Ausbeutung ist eine moralisch aufgeladene Kategorie, die jedoch wenig begreift. Das gesellschaftliche Grundverhältnis, die Produktion von Waren und der Zwang zum Tausch, wird darin überhaupt nicht tangiert. Implizit wird nichts anderes als Gerechtigkeit eingeklagt. Ausbeutung beschreibt aber nur einen Aspekt des kapitalistischen Universums, nimmt Produktionsverhältnis, Zirkulationsweise und Konsumtion nicht als Totalität wahr.

Unterstellt wird, dass jemanden etwas genommen wird, was ihm eigentlich zustünde, worüber sodann andere verfügen. Es hat was von Diebstahl und gegen Diebstahl hat eins als braver Bürger zu sein. Karl Marx schreibt in seinen „Randglossen zu Wagner“ (1879/80): „Dunkelmann schiebt mir unter, dass ,der von den Arbeitern allein produzierte Mehrwert dem kapitalistischen Unternehmern ungebührlicher Weise verbliebe‘. Nun sage ich das direkte Gegenteil; nämlich, dass die Warenproduktion notwendig auf einem gewissen Punkt zur ,kapitalistischen‘ Warenproduktion wird. Und dass nach dem sie beherrschenden Wertgesetz der ,Mehrwert‘ dem Kapitalisten gebührt und nicht dem Arbeiter.“ (MEW 19: 382) „Ich stelle umgekehrt den Kapitalisten als notwendigen Funktionär der kapitalistischen Produktion dar und zeige sehr weitläufig dar, dass er nicht nur ,abzieht‘ oder ,raubt‘, sondern die Produktion des Mehrwerts erzwingt, also das Abzuziehende erst schaffen hilft; ich zeige ferner ausführlich nach, dass, selbst wenn im Warenaustausch nur Äquivalente sich austauschen, der Kapitalist – sobald er dem Arbeiter den wirklichen Wert seiner Arbeitskraft zahlt – mit vollem Recht, d. h. dem dieser Produktionsweise entsprechenden Recht, den Mehrwert gewänne.“ (MEW 19: 359)

Mehrwert meint nicht Unrecht, sondern Recht. Der Kapitalismus ist „unmoralisch“, aber nicht weil er gegen die bürgerliche Moral verstößt, sondern weil er sie erfüllt. Dunkelmanns Interpretation wurde zur allgemeinen Sichtweise in der Arbeiterbewegung. Als zentrales Kennzeichen des Kapitalismus wird von den Traditionsmarxisten aller Coleur so nicht die Verallgemeinerung der Warenproduktion gesehen resp. der Wert als das totalisierende Prinzip, sondern die Enteignung der Arbeiterklasse von den Produktionsmitteln. Die Forderung nach der Vergesellschaftung des Privateigentums an Produktionsmitteln (die entsprechend eingebettet keine falsche ist) wurde zur zentralen Losung aller Reformisten und Revolutionäre. In trauter Eintracht glaubte man an die Verfügungsgewalt der Kapitalisten über die Produktionsmittel. Indes stellt diese lediglich eine Fügungspflicht dar. Nicht das Kapital ist abhängig von den Kapitalisten, sondern die Kapitalisten vom Kapital.

5.

Mehrwertkritik macht aus der kapitalistischen Nötigung, sich verkaufen zu müssen eine klassenkämpferische Tugend sich teuer verkaufen zu sollen. Das nennt sich dann konsequente Interessenspolitik. Schlimm ist allerdings nicht, dass irgendein Lohn zu niedrig ist (das ist wohl jeder und keiner), schlimm ist, dass es überhaupt einen Lohn (oder eine andere Form der Geldgewinnung) geben muss, um sich die gesellschaftlichen Produkte und Dienstleistungen aneignen zu können.

Mehrwertkritik ist verkürzte Kapitalismuskritik, sie richtet sich gegen Ausbeutung und Plusmacherei, stellt aber Beute und Macherei nicht in Frage. Größtenteils ist sie blind. Sie sagt nichts zur Zwangsform des Tausches, nichts zu den kapitalistischen Konsumverpflichtungen, nichts zum Charakter der Gebrauchwerte und den aus ihm folgenden ökologischen Katastrophen. Sie hat kein analytisches Instrumentarium dafür, allenfalls werden diese Zustände beklagt.

Wer die Klassen nicht als unterschiedliche Pole eines Ganzen begreift, sondern als antagonistisches Grundverhältnis inszeniert, muss geradezu den Mehrwert als dem Kapital von außen Zugeschossenes betrachten, also eben nicht als etwas, was aus dem Kapitalverhältnis originär hervorgeht. Allzu oft hat man das Gefühl, dass alles seine Ordnung hätte, wäre der Mehrwert ein bloßer Wert und kein zu verwertender Wert. Und genau das ist der Standpunkt der „ehrlichen Arbeit“: Sie will Wert haben ohne Mehrwert zu geben. Mit der bornierten Kritik des Mehrwerts wird der Wert geradezu affirmiert, während mit einer fundamentalen Kritik des Werts der Mehrwert gleich miterledigt werden würde.

Die aktuellen, auf einer wie immer verschwommenen Mehrwertkritik aufbauenden Einwände gegen bestimmte kapitalistische Machenschaften bewegen sich allesamt auf dem Niveau oberflächlicher Volksvorurteile. Der marktwirtschaftliche Grundmechanismus wird einfach eskamotiert, dafür wird umso frenetischer geschrieen: “ Geld ist genug da! “ Kapitalismus wird so auf die Ebene von Vorenthaltung und Betrug, von Schuldigen und Unschuldigen herunterphantasiert. Einmal mehr wird die „ehrliche Arbeit“ betrogen. Womit aber nicht gesagt werden soll, dass Mehrwertkritik a priori zum Antisemitismus tendiere, wohl aber, dass diese Art der Empörung in diese Richtung anschlussfähig ist. Der Antisemitismus spürt das und knüpft an diesen Vorurteilen an; in seinem Sinn zurecht. Er pervertiert das Anliegen nicht, er spitzt es bis zur kenntlichen Ungeheuerlichkeit zu.

Kritik des Mehrwerts ist der generell falsche Fokus der Gesellschaftskritik. Er drückt Arbeiterinteressen aus, aber nicht Interessen wider die Arbeit. Die Arbeit wird als eherne Instanz gar aus der bösen Welt des Kapitals herausgenommen, so als sei jene nicht immanenter Bestandteil, sondern ein drangsaliertes Außen, das es zu befreien gilt. Wir sind ganz v und wollen mehr vom m. Nichts anderes sagt übrigens auch c. Darin besteht ja unter anderem die eherne Interessenskonformität von Arbeit und Kapital. In der Zwischenzeit ist man übrigens schon dazu übergegangen, sich ganz auf v zu kaprizieren, „Hauptsache Arbeit“, schreit das durch ebendiese geschundene Subjekt. Und es stimmt ja auch: Ohne v zu sein, gibt es auch gar keinen Kampf mehr um m.

Eins hat jedenfalls auf der richtigen Seite zu stehen. Sich mit den Unterdrückten solidarisieren bedeutet so oft auch mehr für die Unterdrückten als gegen die Unterdrückung zu sein, meint weiters, dass deren Positionierung als positiver Status anerkannt wird. Vom Arbeitertümeln bis zum „kleinen Mann“ reicht da eine breite Palette. Das Erniedrigte wird erhöht anstatt abgeschafft. Der antikapitalistische Kampf ist somit auch kein Kampf gegen Unternehmer oder Bosse, sondern gegen die Zwangscharaktermasken von Arbeitern und Unternehmern, von Proletariat und Bourgeoisie, wobei da heute sowieso die Unterschiede verschwimmen, vor allem kein sozialer Status damit mehr vorprogrammiert ist.

6.

Zins ist nichts anderes als „eine besondere Rubrik für einen Teil des Profits, den das fungierende Kapital, statt in die eigene Tasche zu stecken, an den Eigner des Kapitals wegzuzahlen hat“. (MEW 25: 351) Ganz primitiv: Zinsen erhält man nicht, weil das Geld auf der Bank liegt, sondern weil es zwischenzeitlich im produktiven Sektor angewendet wird; zumindest solange wir uns im realen und nicht im fiktiven Bereich der Ökonomie befinden.

„Im zinstragenden Kapital erreicht das Kapitalverhältnis seine äußerlichste und fetischartigste Form. Wir haben hier G-G‘, Geld, das mehr Geld erzeugt, sich selbst verwertender Wert, ohne den Prozess, der die beiden Extreme vermittelt.“ (MEW 25: 404) Daher kann das „zinstragende Kapital überhaupt als Mutter aller verrückten Formen“ (MEW 25: 483) gelten. Womit wohl auch die Denkformen gemeint sind, die es reproduziert. Das bürgerliche Subjekt dokumentiert unaufhörlich, dass es mit den Abstraktionen von Geld und Wert nicht zurechtkommt und es daher entweder schweigt („Über Geld spricht man nicht, man hat es“ – so eine Standardformel des liberalen Unsinns) oder sich irgendetwas zusammenhalluziniert. Es ist das Unvermögen die gesellschaftlichen Verhältnisse zu durchschauen.

Zinskritik ist nichts anderes als verwandelte Mehrwertkritik. Sie blendet noch zusätzlich die gesamte Produktionsweise als unproblematisch aus und fixiert sich ganz auf den finanziellen „Überbau“. Dass gearbeitet werden muss, ist kein Problem. Wie gearbeitet werden muss, ist kein Problem. Was produziert wird, ebenfalls keines. Eine Aussage wie „Die Banken zocken uns ab“ ist richtig und wiederum nicht. Richtig ist sie, wenn sie das Finanzkapital als besondere Abteilung aber integrierte Funktion des Kapitals und den Zins als verwandelten Mehrwert beschreibt; falsch ist sie, wo sie den Zins als das eigentliche Problem der Enteignung der Menschen dingfest machen will und sich dann noch dunkle Machenschaften von Konzernen, Spekulanten oder gar Juden zusammenreimt.

Dass Sparer und Aktionäre genau das wollen, was sie als Kreditnehmer und Kunde so verachten, sei der Vollständigkeit halber angeführt. Indes reproduziert sich da nur das eherne Grundprinzip der Tauschgegner auf einer bestimmten Ebene: Billig kaufen, teuer verkaufen. Und glaubt eins (was es ja andauernd glaubt), dass es einem umgekehrt passiert, ist es stinksauer: „Solche Gauner! “ Und das ist wiederum auch nicht ganz falsch: Wenn die Leute von den anderen als eine „Ausgeburt von Lumpen“ reden, haben sie schon recht, nur sind sie selbst nichts anderes als diese. Sollen nur jene sie sein, sind sie gegen diese in Schutz zu nehmen. Ebenso umgekehrt. Aber insgesamt: Angriff!

Natürlich gibt es dunkle Machenschaften, die ganze Rationalität des Kapitalismus ist eine dunkle Machenschaft, aber eben als Verhältnis und nicht als Kreation irgendwelcher Geheimorden oder Kapitaleigner, die die Fäden im Hintergrund ziehen. Vielmehr ziehen die Fäden die Macher, selbst dann, wenn die sich einbilden, es sei ihr ureigenstes Tun, das diese oder jene Folgen tätigt. Diese „okkulte Qualität“ (Marx) einigen Personen zuzuschieben ist das elendigliche Gesellschaftsspiel falscher Selbstbehauptung wie falschen Aufbegehrens. Indes darf aber puncto Letzterem nur dessen Falschheit, nicht aber das Aufbegehren gegen das Leiden durchgestrichen werden. Die Empörung über die Verhältnisse kennt viele gute Gründe. Emanzipatorische Kritik kann nicht darauf verzichten, das Finanz- und Kaufmannskapital zum Gegenstand zu machen, es darf ob des Gefahrenpotenzials nicht aus der Gesellschaftskritik herausgenommen werden. Es ist nicht eine Frage des „ob“, sondern eine des „wie“.

7.

Für alle Marxisten war der Mehrwert die entscheidende Größe zur Analyse der kapitalistischen Produktion. Er galt nicht bloß als Inkrement zur Verwertung des Werts, sondern war überhaupt das Synonym für jene. Klassisch sind etwa die Ausführungen von Friedrich Engels im Vorwort zum Zweiten Band des Kapitals von 1884 (MEW 24: 17ff. ); aber selbst der späte Adorno meinte noch, das „Kernstück der Marxischen Theorie“ sei die „Lehre vom Mehrwert“. (GS 8: 359)

Daran hat sich auch heute noch wenig geändert. Man werfe einen Blick in die einschlägigen Dokumente von Attac oder diversen Sozialforen, Gewerkschaften, Reformkommunisten oder Trotzkisten. Bei aller Differenz wird die „soziale Frage“ dort immer noch und immer wieder unter den Prämissen der Mehrwertkritik entwickelt. Der zentrale Knackpunkt heutiger Sozialkritik ist aber der: Gelingt es von der Mehrwertkritik zur Wertkritik aufzusteigen? Nichts weniger als dieser qualitative Sprung ist erforderlich. Das wäre wirklich der Schritt vom Klassenbewusstsein (ein Terminus, den es bei Marx nicht gibt) hin zum „enormen Bewusstsein“ (Marx).

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