FORVM, No. 496-498
Juni
1995

Rückkehr nach Österreich

K.P., geboren 1928 in Baden bei Wien, FORVM-Autor und Mentor unserer Blattmacher seit Michael Siegert, wird am 31. August d.J. als Redakteur des off. Organs der Israelitischen Kultusgemeinde Wien, »Die Gemeinde«‚ in Pension gehen. Früher als »Kommunist« verdächtigt, wird er jetzt gern wegen seiner Satire »Brief aus der Heimat« im Exil-FORVM (Nr. 495, Amsterdam, 22. März 1998) als »grüne Unke« beschimpft.
Nachstehend ein Abschnitt aus seinen Memoiren.

Der französische Polizist, der mich in Paris, im fünften Stock der Polizeidirektion ohrfeigte, tat dies nicht mit voller Kraft. Er redete auf mich in französisch und jiddisch ein, doch die Wahrheit zu sagen. »Wahrscheinlich ein Jude«, dachte ich mir. Zuvor hatte mich ein anderer Polizist kräftiger geohrfeigt. Ich verstand nur ein paar Wörter Französisch, und Jiddisch nur jedes zweite Wort, weil es dem Deutschen so ähnlich klingt.

Meine Geschichte war natürlich erlogen. Weshalb ich mich nicht in Budapest bei der österreichischen Gesandtschaft gemeldet hätte, fragte er, und wie ich aus einem ungarischen Arbeitslager flüchten und bis Paris gelangen konnte, ohne dafür einen Zeugen zu haben, ohne meine Behauptung mit einem Beweis belegen zu können.

Nach einigen Stunden des handgreiflichen Zuredens ermüdete der Polizist. Sein Vorgesetzter kam ins Zimmer, schüttelte den Kopf und meinte, es hätte keinen Sinn. Daraufhin kam ich ins verschmutzte, stinkende Polizeigefängnis. In der Früh erhielten wir eine schwarze Brühe, genannt Kaffee, und ich wurde mit einem Pariser in eine Zelle gesteckt. Der junge Mann erklärte mir, er hätte einen »cheque sans provision«, einen ungedeckten Scheck in Umlauf gebracht. Wortreich schlug er mir auf französisch vor, doch in die gleiche Branche einzusteigen. Er machte große Gesten und zeigte, wie man mit dieser »Arbeit« Geld scheffeln könne. Der junge Mann war optimistisch und seine ganze Art belustigte mich. Nach ungefähr einer Stunde wurde er abgeholt. Dann kam ich an die Reihe. Ich wurde in einen Gerichtssaal gebracht. Verteidiger hatte ich keinen. Ein Richter fragte etwas, was ich nicht verstand. Die Verhandlung dauerte keine Minute und schon war ich zu einer Woche Haft wegen unerlaubten Grenzübertritts verurteilt, die ich im Gefängnis »Santé« verbüßen mußte. Die Zelle teilte ich mit einem älteren Franzosen, der mir erzählte, inhaftiert zu sein, weil er gegen die »interdiction«, d.h. gegen das Aufenthaltsverbot in einer der drei großen Städte verstoßen hatte. Stolz berichtete er mir, in jungen Jahren seine Frau, die er mit einem anderen Mann erwischte, umgebracht zu haben. Dann diente er in der Fremdenlegion und nach dem Zweiten Weltkrieg oder schon früher war er als Einbrecher tätig.

Nicht ein einziges Mal durfte ich während dieser Woche duschen. Da es nichts zu lesen gab, verbrachte ich die Zeit mit Tagträumen. Mitten in der Woche belebte sich unsere Zelle, ein dritter Mann wurde hereingebracht, es war ein Baske, der aus Spanien geflüchtet war. Als ich mich einmal über die Haft beschwerte, tröstete mich der Franzose, »was ist schon eine Woche«, er sitze nun, da er sein Gelöbnis gebrochen hatte und in Paris erwischt wurde, in unbeschränkter Haft.

Am Ende der Woche durfte ich duschen und erhielt meine Sachen zurück, doch frei war ich noch nicht. Ein Polizeiauto brachte mich zum österreichischen Konsulat. Der Konsul, ein freundlicher Herr (ich glaube, ein Vorarlberger) hörte sich meine Geschichte an und sagte mir unverblümt. »Ich glaube Ihnen. Wenn also alles stimmt, dann sind Sie selbstverständlich österreichischer Staatsbürger. «

Schon dachte ich, er würde mir ein Reisedokument ausstellen. Da schaute er mich von der Seite an und bemerkte nach einer Kunstpause: »Sie werden denken, ich sei ein Antisemit. Ich bin es nicht. Doch eben weil ich es nicht bin, rate ich Ihnen, nicht nach Österreich zurückzukehren.« Sein Rat kam natürlich zu spät. Auch wenn ich plötzlich meine Geschichte anders erzählt hätte, die Franzosen hätten mich ausgewiesen. Wieder wurde ich in die Polizeidirektion gebracht. Doch diesmal schlug man mich nicht. Ich erhielt einen Ausweisungsbefehl, mußte diesen unterschreiben. Mein Geld reichte nur für eine Fahrkarte nach Straßburg. So daß sie mich ohne einen Groschen Geld — aber mit der Auflage, mich bei der Straßburger Polizei zu melden — in den Zug setzten. In Straßburg wurde ich schon am Bahnsteig von einem Polizisten erwartet, der mich freundlich fragte, warum ich eigentlich nach Frankreich kam. Nach meiner Antwort, ich wolle französisch lernen und in Frankreich bleiben, leuchteten seine Augen auf und er sagte mir, ich hätte nur die Möglichkeit dazu, wenn ich der Fremdenlegion beitrete. Nach lediglich fünf Jahren Dienst könne ich sogar die französische Staatsbürgerschaft erhalten. Weil ich nicht wagte, sofort nein zu sagen, entgegnete ich ihm, mein sehnlichster Wunsch sei, Frankreich zu dienen. Ich wurde in das Rekrutierungsbüro der Legion gebracht. Der dort sitzende Unteroffizier schilderte mir die Vorteile der Legion mit schillernden Farben: »Tous les jours du viande, du vin rouge et des femmes exotiques« (Täglich Fleisch, Rotwein und exotische Frauen). Doch ich hatte keine Lust. Ich besann mich auf Schweyk, zuckte nervös mit den Lippen und sagte, ich würde schon gerne mitmachen, hätte aber mit den Nerven zu tun. Der Mann schaute mich an und bedeutete meinem Begleiter, mich mitzunehmen. Ich wurde nach Kehl überstellt, wo ich am Bahnhof in einem Zimmer voll von deutschen Eisenbahnern warten mußte. Diese wollten wissen, ob ich hungrig sei. Als ich bejahte, erhielt ich eine Wurstsemmel, und da ich ohne einen Groschen war, sammelten sie auch ein wenig Geld für mich. Dann holte mich ein französischer Militärpolizist ab, legte mir Handschellen an und wir fuhren die ganze Nacht durch Deutschland. Vor Sonnenaufgang brachte mich dieser zur österreichischen Grenze bei Bregenz, mit der Bemerkung »vous êtes chez vous« schickte er mich weg. »Gehen Sie, Sie sind zuhause«. Ich ging zu Fuß bis zum Bregenzer Bahnhof und meldete mich bei der Polizei. Die gaben mir einen Fahrschein bis Innsbruck, wo ich wieder bei der Polizei vorstellig werden sollte.

Wie aus mir kein Kommunist wurde

In Innsbruck wurde ich zur Staatspolizei gebracht und erzählte meine Geschichte. Ich beschrieb meine Heimatstadt Baden bei Wien und nannte den Namen unserer Mieter. Der Polizeioffizier ließ ein Papier schreiben:

Bundespolizeidirektion Innsbruck Innsbruck, den 15. 9. 1951.

Abt. I — ZL: ...

Bescheinigung.

Der angebliche Karl Pfeifer, geb. am 28.8.1928 in Baden bei Wien, Staatsangehörigkeit ungeklärt, ist am 15.9.1951 ha. mit französischen Reisepapieren zur Anmeldung gekommen. Diese Dokumente wurden zur Ueberprüfung vorläufig einbehalten. Die Korrespondenz betreffend Klärung seiner Staatsangehörigkeit wurde eingeleitet. Bei Kontrollen wird gebeten, diese Bescheinigung als vorläufigen Identitäts-Ausweis gelten zu lassen. Die Bescheinigung verliert ihre Gültigkeit am 22.9.1951.

Heim- oder Rückkehrer waren nur ehemalige Kriegsgefangene. Als rückkehrender Jude wurde ich an einen jüdischen Möbelhändler verwiesen, nicht weit vom Hauptpostamt, der für mich am anderen Innufer in einem billigen Gasthof ein Zimmer reservieren ließ. Er gab mir auch etwas Geld, so daß ich mich verpflegen konnte. Nach mehr als einer Woche erhielt ich meinen viersprachigen Ausweis und konnte den Zug nach Wien besteigen.

Als ich mit meinen Eltern im Sommer 1938 den Westbahnhof verließ, war dieser voll mit Gestapo und SS. Diesmal hielt der Zug weit draußen. War es nicht eine gerechte Strafe, daß dieser Bahnhof, in dem ich mich als Kind so gefürchtet hatte, bombardiert wurde?

Ich ging zu Fuß zum Schottenring, wo sich damals die Israelitische Kultusgemeinde befand. Dort mußte ich erst einmal in einem separaten Raum warten. War es ein Spitzel oder nur ein anderer Hilfesuchender, der mich fragte, wie es mir denn in Österreich gefiele? Ich war 23 Jahre alt, hatte keine Ahnung, was meine kritische Stellungnahme bewirken würde und sagte voreilig: »Für meinen Geschmack haben die Nazis viel zu viel zu sagen.« Mehr hatte ich nicht gebraucht. Ich wurde als »Kommunist« abgestempelt und ins Asyl der Stadt Wien, in die Meldemannstraße geschickt, wo ich in einem Schlafsaal mit noch 49 meistens Strafentlassenen und/oder Alkoholikern eine Unterkunft fand. Später sollte ich erfahren, daß einige derjenigen, die mich als »Kommunist« abgestempelt hatten, selbst in Palästina oder anderswo Kommunisten waren. Nach ihrer Rückkehr fanden sie ihren Weg zur SPÖ, die als Regierungspartei ihnen eine Wohnung und Arbeit verschafft bzw. ein Studium ermöglicht hatte. Freilich hätte ich erkennen können, ob Lehrer oder Putzfrau, in Österreich sicherte nur das richtige Parteibuch das Fortkommen. Die ersten Wochen in der Meldemannstraße deprimierten mich. In der Früh mußten wir den Schlafsaal verlassen. Ich trieb mich den ganzen Tag in den Straßen und in den Informationszentren der Besatzungsmächte herum. Die meiste Zeit verbrachte ich im Porrhaus, wo damals das sowjetische Informationszentrum untergebracht war. In der »Volksstimme« und in der »Österreichischen Zeitung« las ich von den Nazis, die sich wieder frech artikulierten. Mein erster Eindruck, den ich in Innsbruck gewonnen hatte, wurde von diesen Zeitungen bestätigt. Da sie umsonst oder fast gratis waren, schaute ich hauptsächlich sowjetische Filme an. Doch ich hatte so meine Zweifel, ob denn dort alles so blühe, wie sie es schilderten.

Nach meiner Rückkehr nach Wien mußte ich mich nach Baden begeben, um im Rathaus den Auszug aus der Heimatrolle meines Vaters zu beschaffen. Ein Beamter traf mich auf den Treppen des Rathauses und fragte, ob ich denn der Sohn des Herrn Ludwig Pfeifer sei. Als ich dies bejahte, sagte er: »Ich kannte Ihren Vater; er war ein feiner Mann, obwohl ... « und wurde ganz rot im Gesicht. In Baden besuchte ich unsere ehemaligen Mieter, die Familie W., die sich auch nach 1938 zu uns sehr anständig verhielt. Frau W. erzählte lachend, ihr Mann, Professor am Badner Gymnasium, hätte noch vor Kriegsende russisch gelernt. Nach 1945 wurden in unserer ehemaligen Wohnung hohe sowjetische Offiziere einquartiert, mit denen sich die Familie W. befreundete. Doch als einer dieser Offiziere 1946 abberufen wurde, nahm er alle fünf Anzüge des Professors mit. Als der Professor vom Unterricht heimkehrte, fand er seinen Kleiderschrank leer. Da ich der Familie W. Glauben schenkte, wußte ich, daß man der sowjetischen Propaganda nicht glauben konnte.

Nach ein paar Wochen in der Meldemannstraße erhielt ich meinen ersten Brief. Zu meiner Überraschung schrieb mir die Bezirksorganisation Brigittenau der KPÖ. Leider habe ich diesen Brief, wie so viel anderes, während eines meiner Umzüge verloren. Im Brief wurde ich — »ein Opfer des Faschismus« — aufgefordert, der Partei, die die konsequentesten Kämpfer gegen den Faschismus stellte, beizutreten. Endlich, dachte ich, werde auch ich zu einer Partei gehören, denn in der Zwischenzeit hatte ich begriffen, daß man in Österreich irgendwo dazugehören mußte. Nur so wird man mir helfen, aus meine Misere herauszukommen. Der Brief bestellte mich — es war im November 1951 — zu einer späten Nachmittagsstunde zum Parteisekretär ins Parteilokal in der Raffaelgasse.

Ich war pünktlich und der Parteisekretär empfing mich freundlich. Auf die Frage »Was hältst Du von unserem Brief?« meinte ich, daß ich gerne beitreten würde, doch ein kleines Problem hätte. Der Sekretär schaute mich fragend an. Ich sagte »ich bin Atheist«. Er lachte und erklärte, »wenn das alles ist, dann kann ich Dich beruhigen, wir Kommunisten sind alle Atheisten«. Ich weiß nicht, welcher Teufel mich ritt, es war ja die sowjetische Zone und der Mann hätte mich auch verschwinden lassen können, doch ich stellte meine Frage: »Überall bei Euch sehe ich das Bild von Stalin, ist der für Euch unfehlbar, wie der Papst für die Katholiken, oder ist er auch nur ein Mensch, der Fehler begehen kann?« Der Sekretär schrie mich an: »Provokateurmarsch hinaus!« und ich ging tieftraurig und enttäuscht im Regen zurück in die Meldemannstraße.

So wurde ich nicht Kommunist, aber der Ruf — einer zu sein — verfolgte mich Jahrzehnte.

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