Internationale Situationniste, Numéro 1
 
1976

Thesen über die kulturelle Revolution

1.

Das herkömmliche Ziel der Ästhetik ist es, gewisse vergangene Elemente des Lebens trotz deren Mangel und Abwesenheit empfinden zu lassen, die durch eine künstlerische Vermittlung der Verwirrung der Erscheinungen entrinnen können würden, wobei die Erscheinung dann das wäre, was der Herrschaft der Zeit unterworfen ist. Der Grad des ästhetischen Erfolges wird also an einer Schönheit gemessen, die von der Dauer nicht zu trennen ist und sogar einen Anspruch auf Ewigkeit anstrebt. Das Ziel der Situationisten ist die unmittelbare Beteiligung an einem Überfluss der Leidenschaften im Leben durch die Abwechslung vergänglicher, mit voller Absicht gestalteter Momente. Das Gelingen dieser Momente kann nur in ihrer vorübergehender Wirkung bestehen. Die Situationisten fassen die kulturelle Tätigkeit vom Standpunkt der Totalität auf, als eine Methode der experimentellen Konstruktion des alltäglichen Lebens, die mit der Ausdehnung der Freizeit und der Abschaffung der Arbeitsteilung — und an erster Stelle der Teilung der künstlerischen Arbeit — permanent entwickelt werden kann.

2.

Die Kunst kann aufhören, ein Bericht über Empfindungen zu sein, sie kann zur direkten Organisation höherer Empfindungen werden. Es kommt darauf an, dass wir uns selbst, und nicht Dinge, die uns zu Sklaven machen, schaffen.

3.

Mascolo hat recht, im „Kommunismus“ zu schreiben, dass die Verkürzung des Arbeitstages durch die Diktatur des Proletariats „die sicherste Gewähr ist, die diese für seine revolutionäre Echtheit bieten kann“. Tatsächlich „ist der Mensch eine Ware, wird er wie ein Ding behandelt, sind die allgemeinen Beziehungen der Menschen untereinander Beziehungen von Ding zu Ding, was bedeutet, dass seine Zeit käuflich ist.“ Mascolo schliesst jedoch dann zu schnell, dass „die Zeit eines frei angestellten Menschen ‚immer gut angewandt wird und dass‘ das einzige Übel der Zeitabkauf ist“. Es gibt keine Freiheit in der Anwendung der Zeit ohne den Besitz der modernen Instrumente zur Konstruktion des alltäglichen Lebens. Die Benutzung solcher Instrumente wird auf den Sprung von einer utopischen revolutionären Kunst in die experimentelle revolutionäre Kunst hinweisen.

4.

Eine internationale Assoziation von Situationisten kann als eine Vereinigung der Arbeiter eines fortgeschrittenen Kultursektors betrachtet werden oder genauer als die Vereinigung all derer, die das Recht auf eine Arbeit fordern, wie sie die sozialen Verhältnisse heute verhindern — als ein Organisationsversuch von Berufsrevolutionären in der Kultur.

5.

Wir sind von der wirklichen Herrschaft über die durch unsere Zeit angesammelte materielle Macht praktisch getrennt. Die kommunistische Revolution ist immer noch nicht gemacht worden und wir leben immer noch im Rahmen des sich auflösenden alten kulturellen Überbaus. Henri Lefebvre hat richtig eingesehen, dass dieser Widerspruch im Mittelpunkt eines spezifisch modernen Zwiespalts zwischen dem fortschrittlichen Individuum und der Welt steht und er hält eine Tendenz für „romantisch-revolutionär“, die auf diesem Zwiespalt fußt. Lefebvres Auffassung ist jedoch dadurch ungenügend, dass er aus dem bloßen Ausdruck des Zwiespaltes einen ausreichenden Prüfstein für eine revolutionäre Aktion in der Kultur machen will. Er verzichtet im voraus auf jedes Experiment einer tiefen kulturellen Veränderung, indem er sich mit einem Inhalt zufrieden gibt und zwar mit dem Bewusstsein des (immer noch allzu fernen) Möglich-Unmöglichen, das in irgendeiner, im Rahmen der Auflösung angenommenen Form, zum Ausdruck gebracht werden soll.

6.

Diejenigen, die die alte bestehende Ordnung in jeder Hinsicht aufheben wollen, können sich an der gegenwärtigen Unordnung selbst auf dem Gebiet der Kultur nicht festhalten. Auch dort muss unverzüglich für das Hervortreten der beweglichen Ordnung der Zukunft gekämpft werden. Es ist ihre unter uns schon vorhandene Möglichkeit, die alle bekannten kulturellen Ausdrucksformen entwertet. Alle Formen der Pseudokommunikation müssen bis zu ihrer äußersten Zerstörung geführt werden, damit man eines Tages eine wirkliche, unmittelbare Kommunikation erreicht — die konstruierte Situation in unserer Hypothese höherer kultureller Mittel. Diejenigen werden siegen, die es verstanden haben, die Unordnung zu schaffen, ohne sie zu lieben.

7.

In der Welt der Auflösung können wir unsere Kräfte zwar ausprobieren, aber nicht gebrauchen. Die praktische Aufgabe, unseren Zwiespalt mit der Welt — d.h. die Auflösung durch höhere Konstruktionen — zu überwinden, ist nicht romantisch; „Romantik-Revolutionäre“ im Sinne Lefebvres werden wir gerade in dem Masse sein, in dem wir Misserfolg haben.

Eine Nachricht, ein Kommentar?
Vorgeschaltete Moderation

Dieses Forum ist moderiert. Ihr Beitrag erscheint erst nach Freischaltung durch einen Administrator der Website.

Wer sind Sie?
Ihr Beitrag

Um einen Absatz einzufügen, lassen Sie einfach eine Zeile frei.

Hyperlink

(Wenn sich Ihr Beitrag auf einen Artikel im Internet oder auf eine Seite mit Zusatzinformationen bezieht, geben Sie hier bitte den Titel der Seite und ihre Adresse bzw. URL an.)