Grundrisse, Nummer 27
September
2008
Niels Seibert:

Vergessene Proteste

Internationalismus und Antirassismus 1964-1983

Unrast-Verlag, Münster 2008, 224 Seiten, 13.80 Euro

Gegen Kolonialherrschaft und Abschiebungen

In „Vergessene Proteste. Internationalismus und Antirassismus 1964-1983“ zeichnet Niels Seibert die Entwicklung linker Aktivitäten von der Unterstützung anti(neo-)kolonialer Bewegungen bis hin zum Beginn des Widerstands gegen die bundesrepublikanische Ausländer- und Asylpolitik nach. Der Autor liefert damit einerseits einen Beitrag zur aktuellen „40 Jahre 1968“ Debatte, in dem er auf den hohen Stellenwert antikolonialer und internationalistischer Themen innerhalb der Neuen Linken verweist, er schreibt aber zugleich die Vorgeschichte der antirassistischen Aktivitäten der radikalen Linken von den 90er Jahren bis heute. Die in dieser Zeit vor sich gehenden Veränderungen in der Schwerpunktsetzung beschreibt der Autor folgendermaßen: „Allerdings ist über die Jahrzehnte an diesem Punkt ein Wandel feststellbar. Die politisch-strategische Sicht auf Bewegungen in der „Dritten Welt“ wurde von einem eher unmittelbaren Blick auf individuelle Flüchtlingsschicksale und Lebensbedingungen abgelöst. Der Verlust politischer „revolutionärer Subjekte“, als welche die Befreiungsbewegungen einmal gesehen wurden, ging einher mit einer stärkeren Wahrnehmung von Flüchtlingen und MigrantInnen als von Flucht und Asyl betroffenen Subjekten und potenziellen MitstreiterInnen gegen deutschen Rassismus.“ (S. 13)

Der Internationalismus als einer der Auslöser der 68er-Bewegungen

Am Anfang dieser Entwicklung steht ab Mitte der sechziger Jahre die Herausbildung der Neuen Linken, für die der Internationalismus von herausragender Bedeutung ist. Neben den Protesten gegen den Vietnam-Krieg, die in keinem Rückblick auf 1968 fehlen und deshalb in diesem Buch auch nur kurz im Rahmen der Desertionskampagne erwähnt werden, sind es vor allem die Beschäftigung mit antikolonialen Befreiungsbewegungen in Afrika, die die frühen Studentenproteste prägen. Rudi Dutschke bezeichnet die 1964 in Berlin stattgefundene Demonstration gegen den Ministerpräsidenten des Kongos, Moise Tschombé, als den „Beginn unserer Kulturrevolution“ (S. 32) und führt dazu aus: „Mit der […] illegalen, genauer, aus der Legalität in Illegalität transformierten Demonstration Ende 64 in Westberlin in Sachen Tschombé begann die mehrjährige Welle anti-imperialistischer Aufklärung, Aktionen und Demonstrationen usw.“ (S. 32)

Diese Welle anti-imperialistischer Aktivitäten der sechziger und siebziger Jahre beschreibt der Autor im Folgenden anhand zahlreicher Beispiele, wie den Protesten gegen die Friedenspreisverleihung an Leopold Senghor auf der Frankfurter-Buchmesse 1968, der Chile Solidarität und den Aktivitäten gegen Abschiebungen in den Iran. Er versucht dabei immer den Zusammenhang zwischen der Solidarität mit den Befreiungsbewegungen in der Peripherie und den konkreten Unterstützungsmassnahmen für die (politischen) Flüchtlinge in der Bundesrepublik herauszuarbeiten.

Seibert gelingt es dabei in der Tat einige, trotz des aktuellen 1968- Gedenkjahresrummels „vergessene Proteste“ wieder in Erinnerung zu rufen. Denn heute erinnert sich kaum noch jemand an den Stellenwert, den etwa der antikoloniale Befreiungskampf in den portugiesischen Kolonien Angola, Guinea-Bissau und Mosambik für die hiesige Linke hatte. Ein Ausdruck für diese große Bedeutung war etwa die so genannte „Cabora Bassa-Kampagne“. Diese richtete sich gegen die deutsche Unterstützung für den Bau eines Staudammes in Mosambik, in deren Verlauf es u. a. zu militanten Demonstrationen kam, die zum Verbot der Heidelberger Ortsgruppe des SDS führten.

Kritik an der Identifikation mit den nationalen Befreiungsbewegungen

Spätestens mit dem Sieg nationaler Befreiungsbewegungen wurde den metropolitanen Solidaritätsbewegungen oftmals klar, dass ihre vorbehaltslose Identifikation mit den trikontinentalen Guerillas enttäuscht wurde. Denn nach der nationalen Unabhängigkeit wurde meist nicht die befreite Gesellschaft errichtet, sondern die neu an die Macht Gekommenen waren nun gezwungen ein System nachholender Entwicklung in Gang zu setzen, dass seinerseits wieder auf Unterdrückung und Ausbeutung basierte. In den schlimmsten Fällen wurde selbst nach der Machteroberung und den darauf folgenden Gewaltexzessen noch an einer blinden Solidarität festgehalten, wie die Beispiele Kambodscha und Uganda bewiesen haben. Dass es innerhalb der Solidaritätsbewegungen aber auch zu selbstkritischem Nachdenken kam, zeigt der Autor u. a. mit einem Zitat der Redaktion der iz3w aus dem Jahr 1978 in dem es heißt: „Unsere Hoffnung, dass sie dort freie Gesellschaften ohne Ausbeutung und Entfremdung aufbauen würden, ist bisher nicht in Erfüllung gegangen. Vietnam und Kampuchea führen heute Krieg gegeneinander, unter dessen Brutalität ihre Bevölkerung zu leiden hat. Die MPLA-Regierung ist dabei, die Souveränität Angolas stückweise an die UdSSR zu verkaufen. Und in Guinea-Bissau treibt die PAIGC Tourismus-und Industrialisierungsprojekte voran, die den hohen Parteifunktionären und Firmen aus Skandinavien und Italien nützen, aber nicht dem Volk. Unsere Solidarität wird deshalb von Zweifeln geplagt, die wir höchst ungern eingestehen. […] Die Hoffnung, die wir auf sie setzten, war unrealistisch, weil wir die Menschen in Indochina und den portugiesischen Kolonien darin zu Erfüllungsgehilfen unserer eigenen Sehnsucht nach Befreiung gemacht haben.“ (S. 96f.)

Überlegungen für einen emanzipatorischen Internationalismus

Als Konsequenzen aus diesen Erfahrungen werden oftmals die globalen Befreiungsentwürfe gegen die konkrete Arbeit mit Flüchtlingen vor Ort und den Kampf gegen den bundesdeutschen Alltagsrassismus getauscht. Der Beginn dieser Entwicklung wird im Buch anhand der Proteste nach dem Selbstmord des türkischen Flüchtlings Cemal Altun dargestellt, der sich aus Angst vor der drohenden Abschiebung aus einem Fenster des Berliner Verwaltungsgerichts stürzte. Allerdings kann es auch bei dieser konkreten Flüchtlingsarbeit zu antiemanzipatorischen Entwicklungen kommen, etwa wenn die Flüchtlingspolitik nur noch entpolitisiert-moralisch und paternalistisch betrieben wird. Um diesen Fallstricken zu entgehen regt Niels Seibert eine Verbindung des Antirassismus mit dem Internationalismus an. Diese Kombination soll den Kampf gegen das deutsche Migrationsregime und gegen den Alltagsrassismus der Bevölkerung mit der Bekämpfung der globalen Ausbeutungs- und Unterdrückungsverhältnissen verknüpfen. Bezugspunkte und Anregungen für diese Verbindung werden in „Vergessene Proteste“ vorgestellt.

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