Streifzüge, Heft 3/1999
Oktober
1999

Weiblichkeit — Dialektik eines negativen Begriffs

Weiblichkeit, ein schwieriges Thema. Ein modernes Thema, das teilhat an der modernen Konstruktion von Themen, denen man ihre Konstruiertheit ansieht, das heißt, die sich nicht aus der Systematik des schon Bekannten ergeben, sondern die ihre Rechtfertigung und Existenz in einer gewaltsamen Weise erst durch ihr Resultat beziehungsweise durch ihre Dekonstruktion erhalten: Sie kommen aus dem Unbekannten her und bewähren sich nicht dadurch, daß sie bewiesen werden, sondern dadurch, daß sie Existenzqualitäten vorweisen. Weiblichkeit ist ein solches Thema, das nur ist, insofern es sich bewährt.

Was Weiblichkeit ist, kann ich demnach erst erahnen, wenn ich sie hergestellt habe. Dann kann sie zeigen, ob sie sich bewährt. Herstellen wiederum, in der angedeuteten nichtontologischen Weise, kann ich sie nur, indem ich sie von ihrem ontologischen oder naturalistischen Schein befreie und ihre Geschichte aufrolle, wohlgemerkt ihre theoretische Geschichte; denn wenn ich es mit der konstruierten Weiblichkeit zu tun habe, bin ich von ihrer materialen Geschichte natürlich getrennt, kann nur neidisch auf die blicken, die die Dienstmädchenarbeit untersuchen oder die Kollaboration von Frauen im Dritten Reich unter die Lupe nehmen. Ich bin, ob ich will oder nicht, immer schon auf einer anderen Ebene, die mir nur bestätigen kann, daß das, womit ich mich beschäftige, ein theoretischer Gegenstand ist, der mir als einzige Aufgabe die stellt, mich mit ihm als solchem zu befreunden.

Nur am Rande: Auch mit theoretischen, nicht lediglich mit scheinhaft materialen, unmittelbaren Gegenständen kann man nur so umgehen, daß man sie aufhebt. Dekonstruktivismus, so wie ich ihn verstehe — und ihn, mir sein von allen Modeerscheinungen unabhängiges, sein objektives Dasein vergegenwärtigend, vielleicht ein wenig zurechtgebogen habe —, kann in nichts anderem bestehen als in dieser Platitüde und in deren Entfaltung zu einer methodischen Orientierung. Begriffe sind, aus dem Blickwinkel dieser Orientierung betrachtet, eben keine Resultate, sondern falsche Unmittelbarkeiten, die aufgehoben werden müssen und erst, wenn ihr Gewordensein in ihrer Dekonstruktion zumVorschein gekommen ist, ihre Zerlegung und ihr Werden sich als spiegelbildlich identisch herausgestellt hat, ihre Vernichtung also als das „quod-erat-demonstrandum‘“ ihres Gewordenseins anerkannt ist, haben wir so etwas wie ein Resultat. Sich mit Weiblichkeit beschäftigen heißt daher Theoriegeschichte betreiben, und diese Geschichte geschieht nicht als Erweiterung oder Sublimierung der empirischen Geschichtswissenschaft, sondern als Konsequenz eines fundamentalen Zweifels an der Materialität der Weiblichkeit, gänzlich unfreiwillig also, nämlich unter dem Druck ihrer materialen Zweifelhaftigkeit: Ich möchte — oder soll — über Theorie der Weiblichkeit reden und sehe mich durch den Prozeß der Wahrheitsfindung selbst genötigt, über ihre Geschichte zu reden; im Extrem übrigens auch über meine Geschichte mit ihr. Das heißt, ich sehe mich genötigt — ausgerechnet auf dem Feld der abstraktesten Theorie sehe ich mich genötigt, statt eine Theorie vorzutragen oder einen Befund aufzutischen, eine Geschichte zu erzählen. Damit ist das „telling stories“, das Danto als Prinzip der Geschichtswissenschaft ausmachte, in die Theorie hineingewandert, in ihr schließlich angekommen. Es setzt nicht nur ein Bewußtsein von der Relativität von Theorien voraus, sondern verbindet es mit einer eigenen Darstellungsform: Erzählung. Theorie kann nicht nur relativistisch immer anders erzählt, sondern sie kann in schlüssiger Konsequenz nur erzählt werden. Wie jeder theoretische Vorgang ist dieser Sprung in der Darstellung, dieser Darstellungssprung, notwendig und irreversibel. Vielleicht wollte ich ja gar nicht erzählen, vielleicht hätte ich ja lieber deduziert und analysiert. Unter dem Druck eines Relativismus, der sich mir als Erfahrungsdruck darstellt und mir Darstellungsformen aufzwingt, muß ich indessen erzählen.

Es geht also längst nicht mehr um ein latent optimistisches, auf zunehmende Komplexität deutendes, die Wahrheit zunehmend komplexer erfassendes theoretisches Tun — gewissermaßen um die Modernisierung von Hegel —,sondern im Gegenteil um die sukzessive Vernichtung der scheinhaften Materialität von Gewißheiten, die Entfaltung stattdessen der durchaus als fatal begriffenen Theoretizität des Gewußten.

Diesen Blick kann man trainieren, und zu diesem Zweck will ich ein Stück Theoriegeschichte der Weiblichkeit erzählen. Zu diesem Zweck heißt, mit der Perspektive der Aufhebung nicht nur der Materialität der Weiblichkeit, die auf betrachtendem Wege nun mal nicht herzustellen, nur zu dekonstruieren ist, sondern auch der Erzählung selbst. Gelungen ist die Dekonstruktion, wenn sie nicht nur das vermeintlich Feste dekonstruiert, sondern die eigenen Konstruktionspunkte so genau angibt, daß sie selbst dekonstruiert, durch eine andere Erzählung ersetzt werden kann. Relativismus ist davon nicht das Resultat, vielmehr eine exaktere Bestimmung dessen, was Theorie ist und was nicht.

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Die Frauenbewegung, dies das erste Kapitel meiner Erzählung über die Theoriegeschichte der Weiblichkeit, ist uns als ein heute traditionell und konventionell anmutender Kampf um Gleichberechtigung bekannt. Die in der Aufklärung geleistete Formalisierung des Menschen zur selbstbewußten Monade, zum autonomen Individuum, zu einem dank dieser Formalisierung Gleichen unter Gleichen sollte praktisch auf die Frauen ausgedehnt und mußte zu diesem Zweck vorher als sie theoretisch immer schon einschließend begriffen werden. Die umständliche Formulierung deutet bereits auf die Ambivalenz der aufklärerischen Forderung selbst, die das, was sie per Formalisierung als Uneingeschränktes statuiert, zugleich wieder einschränken mußte: Zwar ist das Individuum uneingeschränkt frei, aber nicht jeder kann Individuum sein; Tiere können keine Individuen sein, Sklaven können keine Individuen sein, Frauen können keine Individuen sein. „Amüsiert und erbittert“, heißt es zum Beispiel in der Erzählung „Dschungelresidenz“ von Somerset Maugham über einen bürgerlichen Menschen — und diese Bemerkung am Ende des 19. oder Beginn des 20. Jahrhunderts zieht gleichsam einen Strich unter die angeblich noch heute einzulösende Aufklärung — „amüsiert und erbittert sah Mr. Warburton, wie dieser Mensch, der sich jedem anderen Menschen gleich dünkte, so viele als unter ihm stehend behandelte.“

Die erste Frauenbewegung hat in ihrem Kampfum Gleichberechtigung die mit der Formalisierung des Menschen zum Individuum und Träger von Menschenrechten gesetzte Norm als Realverhältnis behandelt und beim Wort genommen. So brauchte sie nur noch ihre Verwirklichung einzuklagen, das heißt für die Realisierung dessen zu kämpfen, was längst war. Logische Undeutlichkeit, die Ebene oder den Status der zur Durchsetzung aufgegebenen Begriffe betreffend, wurde in geschichtsphilosophische Vision umgemünzt: Der Mensch soll werden, was er ist, oder die Frauen sollen endlich sein, was sie sind, Menschen.

Dieser Kampf ist der Evidenz der eingeklagten Ziele zum Trotz, dank der als logische erscheinenden Undeutlichkeiten der genannten Strategie, die das Sollen zum Sein und das Sein zu einer bloß noch akzidentiellen Ausführungsbestimmung des Sollens erhob, außerordentlich mühsam gewesen, so daß es fast den Anschein hatte, als ginge es, da ja die Normen unbarmherzig feststanden, um die Schaffung neuer ontologischer Tatsachen, um die Schaffung einer Welt, die der rückblickend immer schon als autonomes Individuum bestimmten Frau eine Heimat zu sein vermochte, oder um die Schaffung einer Frau, die ihrerseits den aufklärerischen Normen eine Heimat zu sein vermochte, anstatt zwischen Eskapismus und Engagement verantwortungslos hin- und herzuschwanken. Noch heute ist selbst in Westeuropa der Kampf, seiner theoretischen Abgestandenheit zum Trotz, nicht ausgekämpft, er hat sich vielmehr verschoben. Anstatt daß die Individuierung der Frau mit allen, bereits in der Aufklärung festgelegten Konsequenzen, ihre umfassende Gleichwerdung sich mit dem Zwang der Logik von allein vollzogen hätte, wie eine überreife Erkenntnis aus den gefügigen Verhältnissen herausgepurzelt wäre, hat sich der Begriff des Individuums an dem der Gleichheit, Freiheit, Brüderlichkeit durchaus entlang, aber vielfach auch vorbeientwickelt. Begriff und Schicksal der Frau haben sich erneut verundeutlicht. Mehr als je zuvor erscheint sie als zu Schaffende, während die Koordinaten ihrer aufklärerischen Definition sich vereindeutigt, ihren transitorischen Charakter offenbart haben. Selbst wenn, sagen wir als Beispiel, in einer Schule 100% des Lehrpersonals weiblich und nur der Direktor ein Mann ist, so zweifelt heute niemand daran, daß es sich bei den ersteren um Individuen, wogegen es sich bei letzterem womöglich um eine Marionette handelt oder ganz schlicht um ein Opfer seiner Männlichkeit, die sich traditionell alle möglichen Fremdbestimmungen anheften läßt. Um es einmal so zu sagen, der Direktor entmannt nicht die Frauen, nimmt ihnen nicht ihre Individualität, vielmehr setzt sich die sei’s bedauerliche, sei’s skandalöse, aber heimlich-unheimlich vertraute, den Bogen zurück in die Voraufklärung schlagende, gegen Begriffe verstoßende, aber an faktische Kontinuitäten anknüpfende Tatsache durch: Es geht auch ohne Gleichheit.
Natürlich ist unstrittig, daß es sich bei dem genannten Beispiel um einen latenten Skandal, um einen Verstoß nämlich gegen die durch formale Normen statuierte Gleichheit und damit um einen Verstoß der Politik gegen sich selbst, also im Grunde um eine schreiende Ungerechtigkeit gegenüber den Frauen handelt, hätte die politische Sphäre sich mittlerweile nicht selbst als Marginalie der Gesellschaft herausgestellt und wäre Ungleichheit auf diesem Gebiet heutzutage nicht im Grunde verzeihlicher als früher, wo sie noch die Illusion der Totalität beinhaltete. Als nichtspezialisierte, unbestimmte, noch zu schaffende — dies die neuen Ausdrücke für Allgemeines, Totalität scheint diesmal die Frau auf der Seite eines neuen, mit Sicherheit nicht weniger illusionären Ganzen gelandet zu sein, während der Mann, verhakt noch in allen möglichen Bestimmungen, vielfach definiert und realisiert, unendlich vermittelt und engagiert, veraltet.

2

Das zweite Kapitel meiner Erzählung über die Theoriegeschichte der Weiblichkeit greift den Differenzbegriff auf, wie er etwa um die italienischen Affidamento-Frauen herum, in Rekurs auf Luce Irigaray formuliert wurde und in jeder erdenklichen theoretischen und praktischen Form in der sogenannten neuen Frauenbewegung eine Rolle gespielt hat und spielt. Es ist noch nicht jener Begriff, der für das dritte — hiermit in aller Kürze angerissene — Kapitel eine Rolle spielt, in dem Weiblichkeit womöglich aus einer Bewegung zu einem Beispiel, aus einem politischen Subjekt zu einem Objekt der Theorie, aus einer Substanz zu einer vielhundertfach gebrochenen Form, aus einem Geschlecht zu einer, grammatisch gar nicht mehr korrekt zu formulierenden, Unterbestimmung von „Geschlechter“ wird, einer sammelnden Unterbestimmung von gender. Ich sage „womöglich“, spielt bei der modernen Entsubstantialisierung der Weiblichkeit, wie sie mit den Namen Dekonstruktivismus und Judith Butler kurz und grob bezeichnet ist, das Geschlecht doch gleichzeitig eine beiläufige und eine zentrale Rolle, der Transvestit, als die Übergangsform schlechthin, die praktische Widerlegung der Geschlechteronotologie, zugleich die Rolle eines Beispiels und einer Substanz; es ist die Substanz einer entsubstantialisierten Gesellschaft, in der Erscheinungen wie Geschlecht oder Sprache die Funktion entsubstantialisierter Substanzen übernommen haben, die Funktion von wie immer zu dekonstruierenden ‚Kernen‘ der Kultur, und die nicht beliebig ‚wegerklärt‘ werden können, fielen mit ihnen doch die Grenzen zur Substanz, deren Aufhebung wäre vergangen.

Der Differenzbegriff, der sich historisch und systematisch zwischen Aufklärung und Dekonstruktivismus schiebt und mein zweites Kapitel konstituiert, hängt an seinem Singular und weiß von seiner pluralistischen Auflösung noch nichts. Zugleich enthält er bereits die wesentlichen Momente des dekonstruktivistischen Begriffs, freilich praktizistisch oder substanzlogisch, ursprungsmythisch und nicht theoretisch.
Seine unmittelbare Logik, freilich auch seinen holzschnittartigen, theoretisch geradezu reflexhaft primitiv, retourkutschenhaft anmutenden Charakter bezieht er aus dem Antagonismus zum Gleichheitsbegriff. So unmittelbar plausibel, notwendig im zweifelhaften Sinn von unvermeidlich, stellt er sich innerhalb des durch ihn konstituierten Begriffspaars Gleichheit und Differenz dar, daß man leicht in den Sog der Plausibilität gerät und sich dann hoffnungslos in den nur auf den ersten, geblendeten Blick beseitigten Widersprüchen verfängt. Diese Widersprüche werden von der Differenztheorie, wohlgemerkt, nicht selbst verdeckt, sondern ungeniert riskiert, geradezu ausgestellt. Wer sie akribisch notiert, kann sie als Sünden brandmarken — und versteht dann die Welt nicht mehr — oder aber sie als Momente eines sich neu konstituierenden Zusammenhangs verbuchen.

Die Differenzfrauen haben begriffen, daß Weiblichkeit durch Gleichheit nur verlieren kann, nämlich sich selbst. Darum bestehen sie auf Differenz. Von dieser Pointe leben sie; rechts und links davon drohen theoretische Probleme, Denkaufgaben, die von ihnen kurzerhand für konventionell, nicht einschlägig, im Unterdrückungszusammenhang selbst befangen, in ihm sich erschöpfend, erklärt werden. Anstatt sie anzupacken, was zu ihrer eigenen unvermeidlichen Auflösung führen würde, suchen sie die richtige Lebensform, in weiblichen Seilschaften, in deren schützendem und förderndem Kontext das Weibliche sich herstellen und ausbilden soll und deren regulative Idee die lesbische Praxis ist.

Die Aufgabe, der sich der Differenzbegriff mit Aplomb nicht stellt, an deren Stelle er sich selbst vielmehr mit dem Aplomb einer gefundenen Lösung setzt, betrifft die Geschichte oder Vorgeschichte der Differenz, ihr Schicksal im traditionellen Kontext der Logik, ihren Platz innerhalb der vertikalen Struktur der Gleichheit. Der Trick der Differenztheorie — Angelpunkt des Paradigmenwechsels — ist die Verwandlung des konventionellen vertikalen in ein neuartig horizontales Modell: Hebt Gleichheit nach vertikaler Logik Differenzen auf, verweist diese in dieVergangenheit, die Vorgeschichte, ins Unbewußte, ins Besondere, in den Unterbegriff, betreut oder — je nachdem, wie man die Sache sehen will — vernichtet sie, so setzt Differenz, die aus dem Begriffspaar ‚Gleichheit und Differenz‘ kommt, sich an die Stelle der Gleichheit. Wir wollen different sein, sagen die Frauen, nicht gleich. Gleich, das sind die andern, die Begriffsfetischisten; different ist konkret.

Nun ist die postmoderne Umerziehung der Köpfe wahrscheinlich so weit gediehen, daß es heute niemandem mehr möglich ist — ich sage es absichtlich in doppelter Negation —, in der Differenz nicht statt einer unmittelbar gegebenen Substanz die Formbestimmung zu gewahren, das formelle Andere der Gleichheit, die Begriffsqualität, so daß es also ganz natürlich ist zu sagen: nicht Gleichheit, sondern Differenz. Im ersten Moment, auf den ersten Blick die reinste Mogelpackung, die im Unterschied nicht den bloßen Vorbegriff zur Gleichheit, den bloßen Unterbegriff zum gegebenen Oberbegriff, das Besondere eben im untergeordneten Verhältnis zum Allgemeinen, sondern ihn selbst — den Unterbegriff! — als sprengkräftige Alternative präsentiert, stellt sie sich auf den zweiten Blick, im zweiten Moment als Ausgangspunkt einer streng begrifflichen Umwertung heraus: Von nun an soll die Welt in Begriffen der Differenz gefaßt, zugespitzt, von nun an sollen Differenzbegriffe gebildet werden. Nach wie vor soll tüchtig in Begriffen geredet, aber es soll nicht mehr in vertikalen, sondern in horizontalen Begriffen geredet, es soll nicht mehr subsumiert, sondern abgegrenzt werden. Die Welt soll nicht erobert und in Besitz genommen, sie soll aufgeteilt werden.

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Scheinbar braucht der aufklärerische Begriff der Gleichheit, da er sich auf einen umfassenden Begriff vom Menschen beruft, zu seinem Verständnis, damit man ihn abschätzen, ihn einordnen, ihn mit Sinn und Vorstellungsinhalten füllen kann, keinen substantialistischen Halt an etwas, was ihn definiert, zum Beispiel an der Ökonomie, die ihm seine logischen Undeutlichkeiten als die Interferenzen zwischen ‚Gleichsein‘ und ‚Gleichhaben‘ erläutern und ihn mit Erklärungen materieller Ungleichheit schikanieren könnte, solange, bis ihm selbst die ganze Gleichheit keinen Spaß mehr macht. Der politische Begriffder Gleichheit lehnt die Ökonomie ab, braucht sie scheinbar nicht; Gleichheit gilt als Norm, nicht als ökonomische Tatsache. Eher scheint Ungleichheit, da sie sich mit einem umfassenden Verständnis vom Menschen nicht verträgt, also eigentlich eine Begriffsverwirrung wiedergibt, einen Schein produziert, einen Draht zu ökonomischen Tatsachen zu haben. Ungleichheit ist eben materielle Ungleichheit, Faktum im niederen Bereich.

Der Begriff der Differenz setzt die normative Überlegung konfliktfreudiger fort: Wenn Gleichheit nicht nur ein Terrorinstrument zur Verdrängung, gar Statuierung von Ungleichheit sein soll, dann muß sie sich am Ungleichen bewähren. Nicht darf sie es gleichmachen, mit allen, notfalls letalen Konsequenzen, wie sie aus den imperialistischen Feldzügen bekannt sind, sondern sie muß das Ungleiche selbst als Gleiches anerkennen, als Unterschied, der das Gleiche, indem er es begrenzt und damit selbst zum Unterschied herabsetzt, zugleich konstituiert, also nicht marginal, sondern konstitutiv für das normative Gleichheitsdenken, das aus der Gleichheit herausgewachsene, über sich selbst hinausgewachsene Differenzdenken ist. Gleichheit ist als normativer ein bürgerlicher Begriff. Insofern ist Aufklärung auch immer eine Gegenbewegung zum Marxismus und nicht bloß seine Vorbereitung und Vorstufe. Letzteres zu behaupten konstituiert vielmehr die allseits bekannte Trivialversion, die politische Gleichheit, die auf ökonomische Formbegriffe zu beziehen wäre, mit sozialistischem Inhalt zusammenrührt, so daß aufimmer unklar bleibt, woran das geschichtsphilosophisch Ausgewiesene gescheitert ist. Innerhalb dieser Gegenbewegung, die ja, wenn sie sich nicht auf Sozialismus als auf das ihr fremd und äußerlich gewordene Eigene beziehen darf, die ihre Widersprüche als immanente formulieren muß, stellt sich der Unterschied der Geschlechter als ein Gegensatz heraus, der dank seiner Anbindung an Substanzen, substanzlogische Geschlechtsunterschiede, wohl imstande ist, die Dialektik der Gleichheit, ihr zugleich utopisches und mörderisches Moment zu spiegeln und ganz unabhängig von jedem klassenkämpferischen Bezug ein Modell für Unterdrückung zu liefern, das sich vom Modell der Unterdrückung durch Ungleichheit zum Modell der Unterdrückung durch Gleichheit dann scheinbar selbsttätig fortentwickelt.

So wie der Kampf um Gleichberechtigung den Marxismus, der die Ungleichheit in einer klassensprengenden Weise ausgelegt hat, durchaus nicht gebrauchen kann, so kann die Differenztheorie die Triebpsychologie nicht gebrauchen. Ihr ist sie nicht zufällig, aus im folgenden vielmehr zu erläuternden Gründen näher als dem Marxismus, näher auch als der aufklärerischen Ideologie. Zugleich ist sie nur zu verstehen als direkte Abgrenzung von ihr. Das Differente ist da und genau nicht verdrängt.

In ihrem Schematismus ein direkter Abkömmling der bürgerlichen Gleichheitstheorie ist die jüngere bürgerliche Differenztheorie faktisch zugleich eine Gegenbewegung gegen die psychoanalytische Triebpsychologie, der sie die Tatsache eines durch keine Norm mehr zu beschwichtigenden Unterschieds entnimmt, sie damit bei aller Gegnerschaft faktisch beerbend. So wie die Erfahrung des Klassenantagonismus das konkrete Modell für eine Ungleichheit liefert, die an der Gleichheit das Deklamatorische entlarvt, so liefert die triebpsychologische Erfahrung eines qualitativ, nur in Begriffen des Infantilen, Unbewußten zu fassenden Differenten das Modell eines Unterschieds, den sich — dies die ganze Pointe Freuds — Gleichheit nicht zu subsumieren, den sie eben nur zu verdrängen, schlimmer abzuspalten vermag. Der nicht zu subsumierende Unterschied, den die bürgerliche Triebpsychologie in der Konstitution des Bürgers selbst entdeckt — ihm den geschichtlich herausprozessierten Gegner, das Proletariat, noch einmal einpflanzend, als strukturelles Element, Es, unverlierbar Anderes seiner selbst —, liefert die materielle Voraussetzung der Differenztheorie. Selbst ganz unkonstruktiv, erweist sie sich als Meister in der Verwendung dessen, was, so eingemauert in sein zugleich genealogisches und strukturelles System wie der Marxismus in seine sprichwörtliche logisch-historische Methode, für andere als die durch es selbst statuierten Therapiezwecke schlechterdings unverwendbar erschien.

4

Nur scheinbar mühelos reiht sich in der theoretischen Geschichte der Weiblichkeit also Begriff an Begriff: Erst kommt die Gleichheit, dann kommt die Differenz. Je glatter der Bezug, je überwältigender die Suggestion, daß der letzte Begriff den folgenden förmlich gebiert, desto unverkennbarer die Tatsache, daß die wesentlichen Prozesse sich außerhalb vollziehen. Erst nach der Formulierung des aufklärerisch-bürgerlichen, antiaristokratischen Gleichheitsbegrifts fällt die scheinbar von ihm übersehene, in Wahrheit von ihm produzierte Ungleichheit von Kindern, Frauen, Sklaven, Tieren und so weiter ins Gewicht. Der Grund für ihre Erscheinung als Ungleiche — in einem Zeitalter, das nur noch Gleiche kennt — kann nicht im politischen Wesen der Gleichheit gesucht werden, wird im politischen Kontext Gleichheit doch bestenfalls ‚nachgeholt‘. Produziert wird Ungleichheit zwar offenbar durch Gleichheit, aber nicht auf dem politischen, sondern auf dem ökonomischen Feld, das von der Ungleichheitsrelation lebt, von der paradoxen Identität nämlich von zum Leben notwendiger Arbeit und Mehrwert. Hier sind die Gleichen, die Verkäufer ihrer Arbeitskraft, per definitionem ihrer Gleichheit zugleich ungleich. Anders als im Subsumtionsmodell, das Gleichheit als Oberbegriff verschiedener Dinge, die untereinander different, im übergeordneten Allgemeinen aber identisch sind, präsentiert, produzieren die Verkäufer einer identischen Arbeitskraft durch deren Betätigung unter Bedingungen der Entfremdung — d.h. des Besitzerwechsels der Arbeitskraft — ihre eigene Ungleichheit; indem der Arbeitskraftkäufer sie als Ungleiche, ihm Verpflichtete einstellt, nimmt er auf ihre von ihnen erst selbst zu produzierende Ungleichheit ‚Vorschuß‘. Das heißt, erst im ökonomischen Modell wird der Übergang von einer Gleichheit, die Unterschied bündelt, zu einer solchen, die sie erst produziert, konkret. Wir müssen das im Marxismus Festgehaltene also als den systematischen Übergang, die notwendige Voraussetzung vom aufklärerischen Gleichheitsbegriff zum feministischen Kampf für Gleichberechtigung begreifen. Der Kampf des Bürgertums gegen den Adel war ja auch nie einer um Gleichberechtigung; nicht einen theoretischen und politischen Moment blieb unklar, daß es sich um einen Paradigmenwechsel und nicht um die Einlösung, Verwirklichung eines gegebenen Paradigmas ging. Daß Frauen gleich sind, ist dagegen Ergebnis eines Kampfes um Gleichberechtigung. Gleichheit ist Voraussetzung und Norm, Gleichberechtigung dagegen ist etwas Neues; denn wo man hinschaut, sieht man Ungleiche.

Nicht anders steht es mit dem Differenzbegriff. Ist der Gegensatz von Gleichheit entweder die subsumierte oder die produzierte, in jedem Fall also eine vertikal zu fassende Ungleichheit, so ist Differenz, alles andere als bloß deren lateinische Übersetzung, als horizontales Modell vielmehr die Anerkennung der Tatsache, daß Aufhebung, anders als von der Aufklärung prognostiziert, beileibe nicht das einzige Schicksal von Ungleichheit, das entscheidendere, an die Existenz der Gleichheit selbst, an ihre Dauer geknüpfte Schicksal vielmehr die Abspaltung ist. Daß ein Gegenstand, wiewohl oder gerade weil den Bedingungen der Gleichheit subsumiert — den Bedingungen der freien Rede beispielsweise oder der freien Entscheidung —, ungleich bleibt, weil er für die Rede nicht zugänglich, vom vernünftigen Handeln geradezu ausgeschlossen ist: das ist die vollständige Tatsache, von der der Differenzbegriff bloß noch der formale Rest ist. Es ist zugleich die Bilanz der Aufklärung, die auf der Seite der bürgerlichen Theorie erst die Psychoanalyse zieht und sich damit als bürgerlicher Antagonist des Bürgertums profiliert, als derjenige, der den Bürger als Herrn gelten läßt, über alles, nur nicht über sich selbst.

Ausgangspunkt ist die Annahme, die als archäologisches Konstrukt die eigentliche Voraussetzung postmodernen Differenzdenkens wird, daß im Psychischen nichts verlorengeht, daß im Psychischen also ein Hegelsches Aufhebungsmodell mit umgekehrten Vorzeichen, umgekehrter Betonung oder eben ein zur Aufhebung doch antagonistisches Modell regiert. Der Oberbegriff — sagen wir psychoanalytisch: Ich — ist da; aber die Unterbegriffe ordnen sich nicht pflichtschuldigst als Attribute ein, sie werden, latente Gegeninstanzen, die sie sind, verdrängt. Dies, daß sie verdrängt werden, ist der Preis dafür, daß sie sich nicht einordnen müssen. Für das psychoanalytische Ich ist dies zugleich der Preis dafür, daß es als Oberbegriff, in scheinhafter bürgerlicher Subjekttradition regiert: es ist Herr über die Welt, Weltbürger, wie Kant sagt, aber nicht Herr im eigenen Haus.

Nur unter der Voraussetzung, daß nichts verlorengeht, ist Ungleiches als Differentes gedanklich möglich. Genauer: Dann erst ist es als Differentes möglich; als Ungleiches war es ja Aufzuhebendes, tendenziell Aufgehobenes, Gleiches seiner ihm immanenten Prognose nach oder, finster, Beseitigtes. Differentes ist perennierendes Ungleiches, Ungleiches unter der Bedingung, daß nichts verlorengehen kann. Im psychoanalytischen Modell wird der Furor des Aufhebens gewissermaßen in den der Abspaltung hinein fortgesetzt. Das strukturalistische Differenzdenken braucht sich von diesem Furor dann bloß noch zu verabschieden, einen Begriff wie den der Verdrängungsschranke als einen nur noch lästigen Vorbehalt fallenzulassen und sich der Sachen, wie sie angeblich, in Wirklichkeit aber bloß als Sachvorstellungen, geronnene Begriffe, sind, zu bemächtigen.

5

Von der Gleichheit gibt es wie gesagt keinen Weg zur Gleichberechtigung. Der Weg zur Gleichberechtigung führt über den Klassenkampf. Von der festgestellten materialen Ungleichheit der Klassen erfolgt im bürgerlichen Kontext, als Angebot an alle Frauen der Übergang zur formalen Gleichberechtigung der Frau. Die erste Frauenbewegung hat also einen Umweg über den Marxismus gemacht. Dieser Umweg hat sie auf ewig gespalten, in eine bürgerliche Frauenbewegung und eine, um es einmal so zu sagen, sozialistische Frau.

Ebensowenig gibt es von der Gleichheit einen direkten Weg zur Differenz, nur einen zur Ungleichheit. Die Ersetzung der Ungleichheit durch Differenz wird vorbereitet durch die Psychoanalyse, indem sie am Ungleichen einerseits das Nichtzubeseitigende hervorhebt — damit unbewußt der Verkümmerung der marxistischen revolutionären Perspektive Rechnung tragend: das Bürgertum verschwindet nicht! —, andererseits die Momente des Verschwindens an ihrerseits abgespaltene Mechanismen des Verdrängens und Abspaltens delegiert und damit den Grundstein für eine Ontologie des Differenten legt.

Die „Widerlegung Freuds“ hat der zweiten Frauenbewegung einen starken Impetus gegeben, längerfristig betrachtet hat sie sie vielleicht ebenfalls entzweit. Manche sind in der von der Psychoanalyse gespannten Falle des Fundamentalismus hängengeblieben. Als Abkömmling der Gleichmacherei identifiziert, gilt die Psychoanalyse den Frauen als ein letztes Aufbäumen von männlichem Begriffsfetischismus, männlicher Subsumtionswut, die Leerstelle des Weiblichen als zugleich Beweis für die Männlichkeit der Begriffe und die in die Begriffe hinein verlängerte konkrete Vernichtung des Weiblichen. „Triebe und Triebschicksale“ zu verfolgen, das Schicksal des Konkreten festzuhalten, gilt als letzter Versuch, es zu besiegeln, umgekehrt, nach dem Motto ‚wo kein Rauch, da kein Feuer‘ als Beweis für Konkretes; die Konstruktion eines qualitativen Unbewußten wird gleichgesetzt mit dem Versuch, dem Unterdrückten ein Gefängnis zu errichten, in schlichter Umwertung daraus die Perspektive der Befreiung gefolgert; die Konstruktion des dynamisch Verdrängten wird als eine auf die Selbstbezüglichkeit zielende Formulierung der Entfremdung, als Ausdruck der Selbstlähmung des Subjekts identifiziert, der mit tatkräftiger Abgrenzung nach außen, unbefangener Selbstbezüglichkeit begegnet werden muß.

Im dekonstruktivistischen Weiblichkeitsmodell schließlich, meinem bereits angerissenen dritten Kapitel in der Erzählung der Theorie der Weiblichkeit, ist das theoretische Bewußtsein wiederhergestellt, ist Theorie — in der unverschämten Differenztheorie einen skandalösen, aber wohl notwendigen Augenblick beiseite gestellt — rehabilitiert. Auf der Strecke geblieben ist freilich die Weiblichkeit selbst. Sie ist dem Genderrelativismus geopfert worden, hat sich in seinem Zusammenhang als Verdinglichung herausgestellt, die eigentlich vernichtet, aufgelöst und aufgehoben werden müßte, müßte nicht aus Gründen der Systemlogik, die nun einmal Unterschiede verlangt, dieser Vernichtungsprozeß selbst in einen im Gegenteil unendlichen Prozeß der Vervielfältigung umgedeutet werden, der allerdings der point de résistance gegen eine Vereinnahmung des Dekonstruktivismus für eine negative Theoriebildung ist. In der Verwandlung sagen wir von Philosophie in Kultur kommt die Negativität des Dekonstruktivismus an seine Grenzen. Differenz ist zwar nicht mehr fundamentalistischer Einwand gegen Gleichheit — dies ist sie nur noch in einer von unzähligen Facetten praktischer Lebensformen, in denen Weiblichkeit als immer schon differente sich herstellt —, aber deren kulturalistische Einlösung: Von ganz nahem betrachtet, löst die scheinbar einheitliche Gleichheit sich nun mal in unzählige, selbstverständlich gleichrangige Differenzpunkte auf.

Damit präsentiert die dekonstruktivistische Theorie der Differenzen sich als der klassische dritte Schritt in der Entwicklung der Theorie der Weiblichkeit, als Korrektur der fundamentalistischen Differenz, die das psychoanalytische Abspaltungsmodell unverschämt beerbte, und klassische Aufhebung der Gleichheit, deren wahre Struktur erst nach dem fundamentalistischen Protest der Differenzfrauen erkennbar wird: Gleichheit ist Differentes. Zugleich bietet sich gewissermaßen als spontanes Resultat der Erzählung der Beweis fürs eingangs bloß Suggerierte an: daß es Weiblichkeit gar nicht gibt, aber nicht im suggerierten dekonstruktivistischen Sinn, demzufolge sie bloß ein Gegenstand für Vereinbarungen ist, in dem bestimmten Sinn vielmehr, für den Freud den Begriff der Reaktionsbildung geprägt hat. Alles andere als autonom, auf ihre eigene substantielle Weiblichkeit bezogen, ist die von der Theorie entdeckte Frau vielmehr reaktiv aus dem Widerspruch des Bürgers mit sich selbst hervorgegangen, ihn, den Widerspruch, zugleich beerbend und widerlegend, ihn nach allen Regeln der psychoanalytischen Kunst zugleich darstellend und entstellend, kurz als Symptom und Symbol. Mit der ‚wirklichen‘ Frau hat die Theorie der Weiblichkeit sowenig zu tun wie der Körper mit dem Geist oder die Gesellschaft mit der Natur. Das eine ist dem andern verschlossen, durch die bloße Existenz seiner selbst sogar paradox, im Unendlichen, wo sich die Parallelen schneiden, schließlich vollkommen verrätselt. Wo sie ihren Bezug hat, das ist der gesellschaftliche Realprozeß, der, selbst durch und durch geistiger Natur, in tausend Versionen wiedergegeben werden kann. Ihm ordnet sie sich einerseits als ein bestimmtes Reflexionsmodell, das die Theoretizität des Realprozesses verarbeitet hat, unter diesem Gesichtspunkt up to date ist, zu. Andererseits nimmt sie als eine Ideologie an ihm teil, indem sie, um den einzigartigen Begriff von Freud, seinen Verschiebungsbegriff zu gebrauchen, dazu beiträgt, die gesellschaftlichen Widersprüche zu verschieben, weg von dem Gebiet, auf dem sie als unerträgliche, Gesellschaft sprengende nur studiert und analysiert, hin zu jenem, auf dem sie als erträgliche, ja Gesellschaft bildende ausagiert und gelebt werden können.

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