Streifzüge, Heft 4/1999
Dezember
1999

Zur Typologie der Bürgerinitiative

Auszug aus Franz Schandl/Gerhard Schattauer, Die Grünen in Österreich. Entwicklung und Konsolidierung einer politischen Kraft, Promedia-Verlag, Wien 1996, S. 81ff.

Bürgerinitiativen sind die größtmögliche Regression des gesellschaftlichen Widerstands. Sie sind Regungen, nicht Bewegungen, sie stehen um eine ganze Stufe tiefer im Grad des erkennenden Bewußtseins und des qualitativen Ziels. Sie sind Regungen im Sinne von Erregungen oder Aufregungen, die sich als konjunkturelles Phänomen kurzzeitig in einem Personenkonglomerat verdichten. Dessen Grundhaltung ist die Empörung, was meint, daß einfach nicht sein darf, was werden will. Bürgerinitiativen können Vorstufe von Bewegung sein, einen Automatismus von der Bürgerinitiative zur Bewegung gibt es allerdings nicht. Im Gegenteil, die Erfahrungen der letzten Jahre zeigen vielmehr, daß gerade die Bürgerinitiativen den Widerstand schon auf der niedrigsten Ebene abfangen, somit eine Verallgemeinerung der Kritik gar nicht erst zulassen: „Die Bürgerinitiative koppelt die Protestaktionen verengend an eine Forderung, die legal realisierbar ist und mit der die Ursache der Malaise, die bereits existiert oder erwartet wird, scheinbar zu überwinden ist. Die soziale Bewegung indes protestiert gegen das Erleiden-Müssen der Malaise, fordert ebenfalls die Annullierung der Ursachen der Malaise, die ihr freilich nicht durch eine legale Entscheidung aufhebbar erscheinen.“ [1]

(...)

Bürgerinitiativen realisieren sich auch über die Medien oder sogar über die etablierte Politik, sie werden aber wesensmäßig nicht dort geschaffen. Auszugehen ist davon, daß Bürgerinitiativen als gesellschaftliche Kommunikationsform sich außerhalb, formal unabhängig und in Distanz zu gesellschaftlichen Institutionen entwickelt haben. Die traditionelle Politik sah in ihnen hauptsächlich einen Gegner, der die Realisierung gesellschaftlicher Prozesse blockieren wollte und oft auch konnte. Die Medien aber erkannten in ihnen die Möglichkeit das feste Parteiensystem in Österreich zu durchmischen und zu entankern. Sie mußten diese Chance nach Jahrzehnten der eingebildeten, versuchten und tatsächlichen Bevormundung seitens der Parteisekretariate ganz einfach wahrnehmen. Bürgerinitiativen sind aber keine Erfindung der Journalisten oder der Politik, auch wenn sie in concreto von ihnen erfunden werden.

Getragen werden die Bürgerinitiativen meist von öffentlich respektierten Personen wie Ärzten, Rechtsanwälten, Lehrern, Kleinunternehmern etc. Die lokalen Promis schaffen sich in ihnen ein öffentliches Betätigungsfeld, das sie nicht an die Kandarre einer Partei legt. Es kommt durch ihr Auftreten zu einer formalen Spaltung der Eliten, zu einer örtlichen Elitenkonkurrenz außerhalb der Institutionen. Der freie und mündige Bürger, jenes Ideologem aus frühbürgerlichen Zeiten, steht dabei hoch im Kurs. Es ist wohl kein Zufall, daß der Begriff des Bürgers jenen des Menschen ersetzt hat. Geführt also von den originären Autoritäten, die meist die herrschende Ideologie nur ökologisch garniert wieder aufbereiten, gleichen sie so am ehesten örtlichen außerparteilichen Honoratioreninitiativen mit vordemokratischen Strukturen. Die Bürgerinitativen funktionieren nach dem Gesetz der Ansammlung und der Zerstreuung, der Vorgabe wie der Hingabe. Zu Kontinuität und Programm sind sie hingegen nicht fähig. Das wird auch bewußt nicht gewollt, würde es doch den Zusammenhang der meist autoritätsfixierten Eigenbrötler bald sprengen.

Die Relevanz der Bürgerinitiativen rührt aber gerade auch aus dem Honoratiorenprinzip. Die etablierte Politik sieht sich in den Bürgerinitiativen ihren eigenen gesellschaftlichen Agenten gegenüber. Ideologisch trennt sie oft nichts, außer daß letztere die gesellschaftlichen Strukturprinzipien und die darauf aufbauenden Wertvorstellungen mit mehr moralischem Eifer vertreten, während erstgenannte, oft abgeklärt in jahrelangen Kompromissen, ein realistisches wie relativistisches, oft zynisches Verhältnis zu jenen entwickelt haben. Die Bürgerinitiativen wollen die gesellschaftlichen Folgen der von ihnen befürworteten Gesellschaft nicht tragen. Und was noch viel entscheidender ist: Dieser Widerspruch ist ihnen in keiner Weise bewußt. So treffen sich in den Eliten der Politik und in den Eliten der Bürgerinitiativen eigentlich Gleichgesinnte, die sich in der Auseinandersetzung dann gegenseitig Gesinnungslosigkeit vorwerfen. Das Problem der Bürgerinitiativen wird so oft zu einem innerhalb der gesellschaftlichen Eliten.

Darin liegt auch ein wichtiger Grund, daß hinsichtlich der Bürgerinitiativen eine weitgehende Abwesenheit repressiver Momente festgestellt werden kann. Man wird mit ihnen anders fertig. Von etablierter Seite wurden hier idealtypisch zwei Strategien entwickelt, die wir der Pointierung wegen die marktwirtschaftliche und die staatsinterventionistische bezeichnen mögen. Die marktwirtschaftliche Variante geht davon aus, daß es am besten ist, den Widerstand aufzukaufen, indem die Behörden ganz einfach monetäre und infrastrukturelle Versprechungen aller Art abgeben. In nicht wenigen Fällen ist das auch inzwischen schon aufgegangen, konnte das Widerstandspotential, auf eine Ware hinabgewürdigt, neutralisiert, weil abgekauft werden. Das Problem dieser Strategie liegt sicher im begrenzten finanziellen Handlungsspielraum der Politik, weshalb diese Variante nicht verallgemeinert werden kann, obwohl ihr Einsatz von der betroffenen Bevölkerung nur so aufgefaßt werden kann. Diese Vorgangsweise könnte somit bald nach hinten losgehen, weil sie die Betroffenen direkt zum monetären Begehren herausfordert, ja dies vielleicht sogar an Plätzen tut, wo kein diesbezüglicher Widerstand zu erwarten gewesen wäre, er nun direkt Folge wird von monetären Abgeltungen andernorts. Kurzfristige Erfolge dieser kurzsichtigen und bequemen Strategie könnten den überschlauen Erfindern in Politik und Bürokratie im wahrsten Sinne des Wortes teuer zu stehen kommen.

Die etatistische Variante zeichnet sich dadurch aus, daß sie die Bürgerinitiativen verstaatlichen, den Widerstand institutionalisieren will. Da Bürgerinitiativen bei den meisten ökologisch bedenklichen Projekten sowieso nicht zu verhindern sind, mischt man sich am besten gleich offensiv in ihre Entstehungsphase ein, beteiligt sich mittels einiger Honoratioren an ihrer Konstituierung. „Der Siegder Bürgerinitiative hat tatsächlich stattgefunden“, schreibt Gerhard Schattauer. „Kein Vorhaben mehr ist heute denkbar ohne eine dazu gelieferte Bürgerinitiative. Existiert sie noch nicht, wird sie von den Planungswerbern oft gleich selbst mitbegründet. Diese Eindämmungsstrategie funktioniert deshalb, weil die affırmative, also auch eindämmende Haltung zum Wesen der Bürgerinitiative selbst gehört.“ [2] Ähnliches gilt auch für die Wissensweitergabe. Sperrte man bisher die Bürger aus dem Informationsfluß weitgehend aus, präsentierte man nur Ergebnisse, so hat sich das in der Zwischenzeit völlig umgekehrt. Nicht das Informationsdefizit ist heute das zentrale Problem, sondern der Informationsüberfluß. Bürgerbeteiligung wird zur Bürgerbeschäftigung. Wurden früher Kenntnisse vorenthalten, werden heute die Initiativen geradezu mit Papier überhäuft, eine Flut von Gutachten, Stellungnahmen, Expertisen, Gesetzestexten rollt auf sie zu und über sie hinweg. Die Forderung, Einsicht in die Unterlagen zu nehmen, wird allzuoft mit der Herausgabe tausender Seiten Papier konterkariert, was den freien Bürger letztendlich um seine freie Zeit bringt. Diese ist aber nicht nur durch diese weiße Papierlawine bedroht, sondern findet noch zusätzlich oft ihren Sitzungstod. Dieser meint, daß der nach Partizipation schreiende Bürger umgekehrt dahingehend regelrecht in die Pflicht genommen wird, ein Treffen das andere jagt. „Ich will!“ ruft der mündige Bürger und erwartet sich von seinem Staat ein freizügiges „Du darfst!“, erhält aber prompt ein aufforderndes „Du sollst!“. Eingebildete Mündigkeit entpuppt sich als tatsächliche Hörigkeit. Und jetzt kann er sich nicht einmal mehr beschweren ob dieser Behandlung. Er, der ernstgenommen werden wollte, wird jetzt zur permanenten Ernsthaftigkeit (selbstverständlich nach öffentlichen Kriterien) verpflichtet, noch dazu, ohne daß er bezahlt wird für seine Tätigkeit, vielmehr zahlen muß und individuelle Lebensqualität durch dieses Engagement verliert. Seltsame Wandlungen erfährt die Aktivität des Bürgers. Die Geister, die er rief, wird er nicht mehr los. Die Politik, hat er sie einmal ergriffen, sie somit ihn ergriffen, laßt ihn nicht mehr los, verweist ihn in seine Statistenrolle. So wird aus dem engagierten Bürger schließlich einer, der sich nicht engagiert, sondern engagiert wird. Seine Mündigkeit ist bloß ein groteskes Selbstmißverständnis, dem er huldigen muß, um sich huldigen zu können.

Schlußendlich entsteht durch die staatsinterventionistische Strategie Gratiszuarbeit für die öffentlichen Körperschaften und Beschäftigungstherapie für den Privaten. Diese Variante, die der etablierten Politik billiger kommt, hat aber ebenfalls ihre Tücken. Sie ist verwaltungstechnisch aufwendig, liefert Politiker und Bürokraten zusehends dem aufgebrachten Volk aus, läuft früher oder später Gefahr, daß sich einerseits die so behandelten Bürgerinitiativler kräftig verarscht fühlen, was sie ja auch werden, andererseits die Effizienz von Politik und Bürokratie selbst auslöscht, die notwendigen Entscheidungen in der Entscheidungspartizaption absaufen. Sie überstreßt die handelnden Akteure, der Aufwand steht meistens in einem krassen Mißverhältnis zum Ergebnis.

Die Befriedungsstrategien kennen so objektive Grenzen, sind nicht beliebig ausweitbar und verlangen von ihren Setzern, den Politikern, ihren Auftraggebern aus dem Kapital wie ihren Handlangern in der Bürokratie, immense finanzielle und verwaltungstechnische, zeitökonomische und emotionelle Leistungen. Sie werden sich erschöpfen, früher oder später nicht mehr greifen, auch wenn sie heute in vielen Fällen noch erfolgreich sind. Beide Seiten des Konfliktes werden auf dieser Ebene nicht mehr weitertun können. Auf einer anderen Ebene verdeutlichen Bürgerinitiativen und die Strategien wider sie nicht nur die Krise von Markt und Geld als ökonomische Formprinzipien, sondern auch schon, daß die Demokratie als Formprinzip der politischen Kommunikation an ihre Schranken stößt. Demokratie und Emanzipation sind keine Synonyme mehr, sie sind zu Antipoden geworden. Zu Demokratie ist kein Komparatıv mehr möglich, ihre Hochzeiten sind endgültig vorbei.

[1Otthein Rammstedt, Soziale Bewegung, Frankfurt am Main 1978, S. 156.

[2Gerhard Schattauer, Die Grüne Einigung. Die Grünalternativen zwischen Organisation und Kandidatur. Zur Auseinandersetzung um den politischen Charakter der österreichischen Grünalternativen von der Hainburgbewegung bis zu den Nationalratswahlen 1986, Dissertation, Wien 1993, S. 51.

Eine Nachricht, ein Kommentar?
Vorgeschaltete Moderation

Dieses Forum ist moderiert. Ihr Beitrag erscheint erst nach Freischaltung durch einen Administrator der Website.

Wer sind Sie?
Ihr Beitrag

Um einen Absatz einzufügen, lassen Sie einfach eine Zeile frei.

Hyperlink

(Wenn sich Ihr Beitrag auf einen Artikel im Internet oder auf eine Seite mit Zusatzinformationen bezieht, geben Sie hier bitte den Titel der Seite und ihre Adresse bzw. URL an.)